Roy, Shay, Tal und Hila, ihr habt Israel verlassen und seid in die deutsche Hauptstadt gezogen. Gibt es ein Klischee über Israelis in Berlin, das euch nervt?
Roy Alfia: Ich habe schon oft gehört, dass die meisten Israelis in Berlin links sein sollen. Das ist nicht wahr. In diesen Tagen ist es nicht mehr eindeutig, was links und was rechts ist, und Leute so zu kategorisieren, ist ein bisschen absurd.
Shay Dashevsky: Von dem Klischee habe ich noch nie gehört.
Tal Shani: Ich arbeite hier in Berlin für den Verein »Zusammen«. Wir machen Events für die israelische Community, und ich muss sagen: Alle Klischees über Israelis sind wahr. Wir sind, wer wir sind.
Und wie seid ihr?
Tal: Wir sind rechthaberisch, stecken unsere Nase in alles und stellen ständig unangebrachte Fragen: Wie viel Geld verdienst du? Wie groß ist deine Wohnung? Was wählst du?
Roy: So sind allerdings alle Israelis, nicht nur die in Berlin. Das ist genau das, was wir mit unserem Umzug nach Deutschland hinter uns lassen wollten: das ständige Vergleichen und Herumschnüffeln.
Hila Amit: Generell sind Juden neugieriger und direkter – ich auch! Das ist etwas, worauf ich stolz bin, es ist Teil meiner Kultur.
Was ist mit dem Vorurteil, dass Israelis nur nach Berlin kommen, um Party zu machen?
Shay: Wenn ich Leuten sage, dass ich aus Israel komme, höre ich dieses Klischee tatsächlich oft. Ich erinnere mich auch daran, dass ich in den Klubs immer überproportional viel Hebräisch gehört habe.
Hila: Mehr als andere Sprachen?
Shay: Auf jeden Fall. Überall waren Gruppen feiernder Israelis, vor allem im Berghain.
Tal: Ich wohne in der Nähe des Berghains und begegne dort oft Leuten, die sich auf Hebräisch darüber beklagen, dass sie nicht reingekommen sind.
Roy: Ich fand das Berghain nie interessant, dabei bin ich Musikproduzent. In Tel Aviv war ich in der Klubszene sehr aktiv.
»Ich wollte etwas aus meinem Leben machen, und in Tel Aviv ging das einfach nicht.«
Roy Alfia
Roy, du bist 2014 nach Berlin gezogen. Warum hast du damals diese Entscheidung getroffen?
Roy: Ich wollte etwas aus meinem Leben machen, und in Tel Aviv ging das einfach nicht. Dort konnte ich kein Künstler sein und musste wie verrückt arbeiten, um meine Rechnungen bezahlen zu können. Manche brauchen drei Jobs, um in Tel Aviv über die Runden zu kommen. Man kann die Stadt nicht mehr genießen. Hinzu kommen die ständigen Kriege und die Hitze, die mir nicht liegt. Schließlich habe ich beschlossen, dass ich das nicht mehr ertragen kann. Ich habe alles zurückgelassen – eine 15-jährige Beziehung, meine Freunde, meine Familie – und bin nach Berlin gegangen.
Warum ausgerechnet nach Berlin?
Roy: Ich war schon vorher zu Besuch in Berlin, und ich fand es toll, dass es an jeder Straßenecke Musik und Kunst gibt. Ich liebe die Atmosphäre der Stadt. Ein Freund von mir war bereits hierhergezogen, ich hatte deshalb einen Anker vor Ort. Also habe ich den Sprung gewagt.
Hila und Shay, ihr seid etwa zur gleichen Zeit wie Roy nach Berlin gekommen – aus denselben Gründen?
Hila: Ich wollte Israel einfach nur verlassen. Zunächst bin ich für ein Studium nach London gegangen, fand es dort aber gar nicht toll. Für meine Forschung kam ich schließlich nach Berlin und habe es hier sehr gemocht.
Warum wolltest du weg aus Israel?
Hila: Weil es in jeder Hinsicht ein schreckliches Land ist. Es ist sehr rassistisch, es wird mehr und mehr religiös, es ist wirtschaftlich instabil. Es gab nichts, was ich wirklich mochte, außer das Essen. Ich habe im humanitären Sektor mit Menschen aus Gaza gearbeitet und erkannt, dass die Besatzung die israelische Gesellschaft von innen heraus ruiniert. Ich wollte kein Teil davon sein. Damals war Benjamin Netanjahu schon zehn Jahre an der Regierung, und ich wusste, dass sich das nicht ändern würde. Also suchte ich nach einem besseren Ort zum Leben. In Berlin ist das Leben günstig. Hier kann ich eine Künstlerin und Schriftstellerin sein, was in Tel Aviv unmöglich ist. Außerdem muss ich meine Eltern nicht jeden Schabbat sehen.
Roy: Hila, du hast gesagt, Israel sei rassistisch. Wir sollten aber vorsichtig sein, nicht zu verallgemeinern: Ich bin wie du auch kein aschkenasischer Jude und habe Diskriminierung erlebt. Aber auch die Aschkenasim in Israel werden diskriminiert.
Hila: Wo?
Tal: Schau dir mal Kochshows im israelischen Fernsehen an: Da sieht man nie jemanden, der Gefilte Fisch macht.
Hila: Das ist ja auch eklig!
Tal: Da haben wir’s! Du belegst den Punkt, den ich machen wollte.
Hila: Das ist etwas anderes. Bei Diskriminierung geht es um den Zugang zu Jobs, Geld und wichtigen Positionen.
Tal: Es geht auch um Kultur.
Lasst uns zur eigentlichen Frage zurückkehren: Shay, warum hast du Israel verlassen?
Shay: Ich habe vorher schon einmal kurz in Berlin gewohnt, und vor meinem Haus gab es einen Imbiss, wo der Döner 99 Cent gekostet hat.
Roy: 99 Cent!
Shay: Ja, das hat sich mir tief eingeprägt, und als Israel immer teurer, immer nationalistischer und religiöser wurde, bin ich endgültig nach Berlin gezogen.
Wie hat der Umzug nach Deutschland eure israelische und jüdische Identität verändert?
Roy: Ich fühle mich jüdischer. In Israel konnte ich nichts mit den Religiösen anfangen. Wenn ich in Berlin jemanden sehe, der eine Kippa trägt, freue ich mich und grüße höflich. Ich feiere auch ein paar Feste, Chanukka zum Beispiel. In Israel habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Hier ist es mir wichtig.
Hila: Man wird wirklich jüdischer außerhalb Israels. Es ist nicht mehr in der Öffentlichkeit allgegenwärtig, du musst es selbst zu Hause kreieren, sonst ist es weg.
»Ich bin in Deutschland damit konfrontiert, dass mich Leute als Juden sehen.«
Shay Dashevsky
Shay: Ich bin überzeugter Atheist. Aber ich bin in Deutschland damit konfrontiert, dass mich Leute als Juden sehen. Mit dieser Identitätszuschreibung muss ich mich auseinandersetzen.
Wie war es für euer Umfeld in Israel, dass ihr ausgerechnet in die deutsche Hauptstadt gezogen seid, von der aus auch die Nationalsozialisten regiert und die Schoa geplant haben?
Roy: Ich hatte aschkenasische Freunde, die sagten, ich würde jetzt ins »Reich« ziehen, aber meine Familie hatte gar kein Problem damit und ich auch nicht. Das war nicht das, womit ich Berlin zuallererst assoziiert habe. Aber um ehrlich zu sein: Wenn ich jedes Mal daran denken würde, was hier passiert ist, wenn ich durch Berlin laufe, würde ich verrückt werden. Man muss nach vorn blicken.
Tal: Aber sich auch an die Vergangenheit erinnern. Man muss wissen, was passiert ist, weil sich die Geschichte gern mal wiederholt.
Wie hat deine Familie auf deinen Umzug nach Berlin reagiert, Tal?
Tal: Für meine Eltern war das absolut in Ordnung. Aber meine Mutter meinte, dass mein Großvater das gar nicht gut gefunden hätte, wenn er noch am Leben wäre. Er kam aus Polen und musste vor den Nationalsozialisten fliehen. Er war sogar dagegen, dass wir Urlaub in Europa machen. Doch seinetwegen habe ich heute einen polnischen Pass, wofür ich ihm sehr dankbar bin.
Du bist im November 2023 nach Berlin gezogen und damit als die letzte Person aus der Runde.
Tal: Ich wollte schon lange nach Berlin ziehen. Bereits bei meinen ersten Besuchen Anfang der 2010er-Jahre habe ich eine merkwürdige Verbindung zu dieser Stadt gespürt. Aber immer wieder habe ich Ausreden gefunden, doch noch nicht umzuziehen. Im Sommer 2023 fiel dann aber meine Entscheidung, wegzugehen. Nach den Hamas-Massakern vom 7. Oktober 2023 habe ich noch kurz überlegt, doch in Israel zu bleiben. Ich habe mich ehrenamtlich engagiert und getan, was ich konnte, schließlich dachte ich aber: Ich muss das jetzt machen – und bin nach Berlin gezogen.
Der 7. Oktober war auch eine Zäsur für Israelis im Ausland. Wie hat sich euer Leben in Berlin seitdem verändert?
Hila: Mein Blick auf Israel ist noch kritischer geworden. Ich lehne die Reaktion des Landes auf den 7. Oktober ab. Auch viele Leute in Berlin sind nicht in der Lage, beide Seiten zu sehen: Sie interessieren sich nur für das Schicksal der Juden oder nur für das der Palästinenser. Das belastet mich, und ich habe deswegen Freunde verloren, ich habe Facebook- und WhatsApp-Gruppen verlassen, ich habe mein ehrenamtliches Engagement aufgegeben. An meinem Sicherheitsgefühl hat sich aber nichts geändert. Ich habe keine Angst, in Neukölln auf die Straße zu gehen und Hebräisch zu sprechen.
Es gab in Neukölln aber Angriffe auf Israelis, nur weil sie Hebräisch gesprochen haben.
Hila: Wenn jemand kein Hebräisch sprechen möchte, werde ich ihn nicht dazu zwingen. Angst ist eine individuelle Empfindung. Ich verstehe Arabisch und weiß, was die Leute um mich herum reden, und sie geben mir keinen Grund, Angst zu haben. Ich habe kein Problem damit, Taxifahrern zu sagen, woher ich komme. Mit jedem palästinensischen Fahrer, den ich in diesem Jahr getroffen habe, hatte ich ein verständnisvolles Gespräch. Wenn ich in einen arabischen Supermarkt gehe, fühle ich mich besser, als wenn ich zu Netto gehe. Im Ernst. Ich fühle mich mit den Menschen in Neukölln verbunden: Sie sehen aus wie ich, sie haben eine ähnliche Kultur. Ich teile nicht die Vorstellung vieler Israelis, dass alle Palästinenser Juden töten wollen. Ja, es gab die Leute, die am 7. Oktober Süßigkeiten auf der Sonnenallee verteilt haben, und das war schrecklich und verstörend. Aber wenn ich in den israelischen Nachrichten sehe, wie Menschen eine Flasche Champagner öffnen, um den Tod des Hamas-Chefs Sinwar zu feiern, dann bin ich auch angewidert.
Shay: Das ist doch nicht das Gleiche! Sinwar hat nicht nur die Opfer in den Kibbuzim auf dem Gewissen, er hat auch sehr viele Palästinenser getötet!
Hila: Für mich ist es gleich. Man empfindet Freude, dass jemand getötet wurde.
Roy: Jemand? Sinwar war ein Killer. Seine Eliminierung hat viele weitere Tote verhindert!
»Ich teile nicht die Vorstellung vieler Israelis, dass alle Palästinenser Juden töten wollen.«
Hila Amit
Roy, wie hat sich dein Leben verändert?
Roy: Dramatisch. Leider habe auch ich Freunde verloren und mich isoliert. Vorher bin ich immer zu einer türkischen Frau zum Haareschneiden gegangen. Sie war so herzlich zu mir, wir haben uns immer Küsschen auf die Wangen gegeben. Am 7. Oktober hat sie dann auf WhatsApp gepostet: »Free Palestine!« Das war’s für mich. Ich werde wahrscheinlich nie mehr in der Lage sein, jemandem so leicht zu vertrauen. Ich möchte gar nicht erst an den Punkt kommen, an dem ich erklären muss, warum Israel existieren sollte oder warum Israel sich verteidigen muss. Natürlich will ich Frieden! Aber ich habe keine Kraft mehr, Leute über die antisemitischen Wurzeln der palästinensischen Bewegung aufzuklären. Wenn Hila sagt, nicht alle Palästinenser wollen uns töten, würde ich entgegnen: Ich denke, alle Palästinenser sind dazu erzogen worden, mich zu hassen und Juden etwas anzutun. Ich meine nicht, dass sie alle böse Menschen sind. Aber diese Erziehung sitzt tief.
Fühlst du dich noch sicher in Berlin?
Roy: Ich habe keine Angst, auf die Straße zu gehen. Aber ich bin enttäuscht von den Deutschen. Wir hatten ein rotes Dreieck an unserem Nachbarhaus, »Intifada« stand darunter. Mein Mann hat es überstrichen. Dieses Verhalten hätte ich mir von allen Deutschen gewünscht. Aber es gibt hierzulande sehr viel Ignoranz gegenüber der bedrohlichen Situation für Juden. Es scheint mir, dass es vielen Deutschen einfach egal ist. Ehrlicherweise hoffe ich mittlerweile auf die AfD, damit sich etwas ändert.
Hila: Ist das dein Ernst?
Roy: Ja, ist es. Die AfD sollte vielleicht nicht stärkste Kraft werden, aber doch Teil einer Koalition. Sie sind die Einzigen, die endlich durchgreifen wollen: Kriminelle rausschmeißen und Leute abschieben, die nicht loyal zu Deutschland sind.
Hila: Das könnte dir dann genauso passieren, ist dir das klar? Rechtsextreme können, wenn sie einmal an der Macht sind, neu definieren, was »loyal« bedeutet. Schau dir an, wie es Politiker wie Itamar Ben-Gvir in Israel machen.
Shay: Moment mal, jede Regierung sollte doch abschieben dürfen. Wenn ich hier in Deutschland kriminell werde, fände ich es nur gerecht, wenn sie mich nach Israel abschieben. Ich engagiere mich seit ein paar Monaten sehr aktiv gegen Antisemitismus in der Stadt und bekomme darüber viele Informationen über radikale Islamisten, die in Berlin leben und wirklich gefährlich sind. Ich weiß auch nicht, ob die AfD wirklich etwas gegen sie unternehmen könnte. Aber was wird passieren, wenn wir weiter nichts tun?
Hila: Du kannst doch nicht Radikale mit Radikalen bekämpfen.
Roy: Mit diesen Leuten kann man aber nicht einfach mal nett reden. Wir müssen da hart sein!
Hila: Das ist doch das israelische Narrativ, das du hier hineinbringst. Immer harte Kante zeigen, alles kontrollieren. Das funktioniert dort schon nicht. Wir müssen demokratische Wege finden, zum Beispiel in Bildung investieren.
Shay: Das ist aber zu spät für die Extremisten, von denen ich spreche. Jemand muss sie unter Kontrolle bringen, und ehrlich gesagt, es ist mir an diesem Punkt egal, wer das erledigt.
Tal, du bist erst nach dem 7. Oktober 2023 nach Berlin gezogen. Wie erlebst du die Situation?
Tal: Ich hatte Berlin schon einige Male zuvor besucht, und ich habe mich hier immer sicher und zu Hause gefühlt. Das hat sich geändert, als mir wirklich etwas passierte. Ich bin vor einem Kino in Neukölln angegriffen worden, ein Mann und fünf Frauen schrien: »Kill all Israelis« und »Fuck you«. Ein anderes Mal hat mich ein Taxifahrer rausgeschmissen, weil ich am Telefon Hebräisch gesprochen habe. Jetzt habe ich jedes Mal Angst, wenn ich mit meinem Freund auf der Straße spreche. Menschen schauen uns an. Früher war das ganz anders. Hila, ich freue mich für dich, dass du dich noch sicher fühlst. Aber ich gehe nicht mehr nach Neukölln. Und ich sage das nicht, weil ich glaube, dass alle dort böse sind. Ich bin in einer linken israelischen Familie großgeworden, ich habe mich immer für Frieden eingesetzt und versucht, beide Seiten zu sehen. Aber wenn du Angst um dein eigenes Leben bekommst, dann ändert sich deine Perspektive. Roys Position teile ich aber nicht. Ich glaube, die AfD beginnt mit den Muslimen, und dann sind wir dran. Aber ich habe auch keine Lösung. Alles ist sehr kompliziert. Das Einzige, was ich zurzeit tun kann, ist, mir mein eigenes kleines Leben so gut wie möglich zu gestalten. Und die kleine israelische Community hier zusammenzuhalten.
Ihr beschreibt alle einen Rückzug in die eigene Blase. Shay, bei dir ist es anders. Du hast entschieden, dich zu exponieren und gegen Antisemitismus aktiv zu werden.
Shay: Erst einmal habe ich das Gleiche erlebt wie die anderen. Ich habe auch Freunde verloren. Ich bin in der Kochszene unterwegs und kannte viele vegane Kollegen, die nicht einmal einer Fliege etwas antun würden. Aber das Massaker an Israelis haben sie dann gefeiert. Ich wurde auch verbal in der U-Bahn attackiert. Diese Erfahrungen haben mich verändert. Jeden Raum, den ich betrete, jede Person, die ich neu kennenlerne, analysiere ich zunächst: Was kann ich sagen? Werde ich mich verteidigen müssen, wenn ich einfach nur erzähle, wo ich geboren bin? Aber mit dieser Vorsicht kommen wir nicht weiter. Also habe ich mein Projekt angefangen. Ich gehe an Universitäten mit einem Schild: »Ich bin Israeli. Frag mich alles.«
Hila: Kommen dann wirklich Leute zu dir?
Shay: Ja, wir reden, manchmal tauschen wir Telefonnummern aus, um später weiterzusprechen. Manche schreien mich auch einfach nur an. Das ignoriere ich, so gut es geht.
Hila: Hat je einer versucht, dich physisch anzugreifen?
Shay: Nein, bisher nicht. Aber wenn ich nicht in der Uni stände, sondern einfach auf der Straße, würde ich wohl umgebracht werden. Ich denke das wirklich. In Mannheim ist es so passiert. Der Messerangriff galt einem rechten Politiker, der dort einen Infostand aufstellen wollte. Ich bin zwar nicht rechts – ich bin ein linker Israeli, der nicht zur Armee gegangen ist. Aber trotzdem sehen islamistische Täter in mir einen Feind. Solange du dich als Jude so verhältst, wie sie es wollen, bist du sicher. Ich könnte eine Kippa mit Wassermelonen darauf tragen, und die Antisemiten würden mich lieben. Aber wehe, du sagst, was du wirklich denkst.
»Manchmal denke ich: Was ist, wenn ich einmal Kinder habe? Sollen sie hier aufwachsen?«
Tal Shani
Roy: Ich erinnere mich, als ich 2014 hierherzog, gab es schon diese Israelis im Mauerpark, die gegen Israel protestierten und sich selbst Antizionisten genannt haben.
Shay: Vor dem 7. Oktober hätte ich auch als antizionistisch bezeichnet werden können. Ich habe mich stark verändert. Weil ich gesehen habe, dass Menschen auf bestimmten Theorien, dem Antikolonialismus zum Beispiel, ihre Ideologien aufbauen, mit denen sie das Töten von Menschen rechtfertigen.
Ist Berlin noch so attraktiv für Israelis, wie es einmal war?
Hila: Viele Israelis denken, es sei hier gefährlich. Wir haben Glück, dass wir schon vorher hier waren und so verstehen können, wie es wirklich ist. Berlin ist jedoch teurer geworden. Es ist zwar noch nicht so wie in Tel Aviv, aber auch nicht mehr so günstig, dass es noch viele anlockt.
Roy: Und Israelis, die ohnehin stark mit ihrer Familie verbunden waren, sind es nach dem 7. Oktober umso mehr. Sie werden aus ihrer Heimat nicht mehr wegziehen. Außerdem glänzt Berlin nicht mehr so wie früher.
Tal: Aber so ist es gerade doch überall auf der Welt.
Shay: Bis zum 7. Oktober habe ich Israelis immer geraten, nach Deutschland zu kommen. Heute bin ich da vorsichtiger. Ich sage Ihnen: Ich kann euch nicht versprechen, dass es sicher ist. Und wahrscheinlich wird es langfristig eher unsicherer.
Überlegst du, zurückzuziehen?
Shay: Nicht jetzt. Ich bin viel zu kritisch gegenüber dem, was in Israel passiert. Aber wenn es in Deutschland wirklich so schlimm wird, wie ich befürchte, könnte Israel irgendwann der einzige sichere Hafen sein. Ich werde also nicht zurückkehren, weil ich es will, sondern weil ich es vielleicht tun muss, um zu überleben.
Tal: Ich bin gerade erst hierhergezogen. Und ich bereue es nicht. Mein Leben in Tel Aviv war so anstrengend. So teuer. Aber ja, manchmal denke ich: Was ist, wenn ich einmal Kinder habe? Sollen sie hier aufwachsen?
Shay: Alle israelischen Eltern, die ich kenne, stellen sich diese Frage irgendwann. Sie haben zum Beispiel Sorge, ihre Kinder auf deutsche Schulen zu schicken.
Hila, du hast erzählt, wie sehr du Israel verlassen wolltest. Gibt es irgendetwas, dass dich überzeugen könnte, zurückzuziehen?
Hila: Frieden, Mietendeckel, öffentlicher Nahverkehr am Schabbat …
Roy: Okay, jetzt übertreibst du aber! (lacht) Das wird leider nicht so schnell passieren.
Roy, was ist mit dir – hast du einmal überlegt, zurück nach Israel zu ziehen?
Roy: Nein, niemals. Ich fühle mich Deutschland so verbunden. Ich liebe dieses Land. Und ich habe mehr als nur die Hauptstadt gesehen. Die Seen rund um Berlin! Die grünen Felder! Rügen! So wunderschön! Nein, ich will nicht zurück.
Vermisst du gar nichts?
Roy: Doch. Ich vermisse dieses Grundvertrauen in Israel: Wenn etwas Schreckliches passiert, unterstützen wir uns gegenseitig. Wenn in Deutschland etwas passiert, weiß ich nicht, wer zu mir hält und wer nicht. Das ist höllisch beängstigend. Dass mir ausgerechnet das Zusammengehörigkeitsgefühl fehlt, ist schon komisch. Genau vor dieser Enge bin ich damals weggelaufen.
Mit den vier in Berlin lebenden Israelis sprachen Mascha Malburg und Joshua Schultheis.