Dina strahlt so selbstbewusst wie fröhlich. »Ich bin modern orthodox«, sagt sie und spricht das Wort »modern« wie selbstverständlich amerikanisch aus. Sie sitzt im großen Empfangsraum vor der Synagoge von Chabad Berlin und tippt blitzschnell auf dem Handy. Es herrscht reges Treiben, drinnen erklingen die hellen und zuweilen stakkatohaften Töne des Schofars, eine Tonabfolge, die exakt zu dieser Zeit vor Rosch Haschana geblasen werden muss. »Ich esse koscher, aber ich gehe ins Kino. Ich bin offen für die Moderne, aber ich halte die Feiertage. Ich bin nicht liberal, aber bei Instagram.« Dina lacht und legt das Handy weg.
Die junge Frau hat allen Grund, voller Zuversicht ins neue Jahr zu blicken. Gerade hat sie Abitur gemacht und ist an der »AMD Akademie Mode & Design« in Berlin angenommen worden. Seit zwei Wochen studiert sie jetzt und kommt ihrem Traumberuf näher: Modedesignerin. »Das wollte ich als Kind schon werden.«
Seit zwei Jahren in Deutschland
Dabei ist die 17-Jährige gerade erst seit zwei Jahren in Deutschland. Sie gehört zu den ersten Geflüchteten aus der Ukraine und Russland, die es geschafft haben, in Deutschland, in einer anderen Gesellschaft, in Schule, Ausbildung und Beruf erfolgreich anzukommen. In Moskau war sie eine Einserschülerin, hier schaffte sie eine sehr gute Zwei.
Dina Buchman ist eine von rund 600.000 Menschen, die seit Putins Überfall auf die Ukraine aus politischen Gründen aus Russland nach Deutschland gekommen sind. Rund 1,2 Millionen Kriegsgeflüchtete sind es aus der Ukraine. Sie alle stehen vor den gleichen Problemen: sich in einem anderen Land, in einer fremden Sprache so schnell wie möglich zurechtzufinden. Heimweh und Fremde. Traumata und Neubeginn.
Veronika Veksler ist 16 Jahre alt und in Dnipro geboren. Dort hat sie das amerikanische Lyzeum besucht. Im März 2022 gelangte sie mit ihren Eltern und Geschwistern im Auto über Polen nach Düsseldorf. »Nur mein Vater darf nicht ausreisen, wie alle Männer zwischen 16 und 60. Vielleicht wird er noch eingezogen, er ist 41.« Zunächst bezogen sie Quartier in einer Halle des Messegeländes. »Viele Betten ohne Wände, eine interessante Erfahrung«, sagt sie. In Düsseldorf-Rath fanden sie schließlich eine Wohnung. Dort besucht sie jetzt das jüdische Albert-Einstein-Gymnasium. Und sie hatte Glück.
Nachhilfe von einem ukrainischen Lehrer
»Der Schulleiter sagte, du sprichst zwar noch nicht so gut Deutsch, aber du verstehst viel, und so kam ich gleich in eine reguläre Klasse.« In der Ukraine hatte sie seit der sechsten Klasse Deutschunterricht, ihr Niveau in Englisch war aber deutlich höher. Vom ersten Tag an bekam sie Nachhilfe von einem ukrainischen Lehrer. An der Schule sprachen »90 Prozent der Schüler auch Russisch«, sagt sie.
»In den ersten Monaten hatte ich Angst, mich zu melden und auf Deutsch zu sprechen, obwohl ich die Antwort kannte. Die Angst ist das Schwierigste. Dann las ich Bücher, konsumierte Medien auf Deutsch, und plötzlich verstand ich.« Schließlich werde anders als zu Hause hier auch die mündliche Mitarbeit bewertet. Jetzt ist Veronika in der Klasse wie in der Stadt angekommen, spricht fließend und meldet sich fleißig. »Düsseldorf gefällt mir. Vor allem die öffentlichen Verkehrsmittel. Man kann einfach in der ganzen Stadt herumfahren.«
»Ich bin nicht liberal, aber bei Instagram.«
Dina Buchman
Dina wurde in Berlin geboren, wuchs aber in Russland auf. Ihr Vater studierte und arbeitete in den 80er-Jahren in der deutschen Hauptstadt. In Moskau lernte er seine Frau kennen. »Wir zogen damals nach Russland, denn das jüdische Leben dort war sehr gut«, sagt Alexander Buchman. Auch dort lebten sie in der Chabad-Gemeinde. »Wir sind zwei Wochen nach Ausbruch des Krieges ausgewandert«. Da es keine anderen Flüge gab, landeten sie zunächst in Taschkent.
Von Usbekistan über Tiflis in Georgien nach Berlin
Von Usbekistan führte die Flucht über Tiflis in Georgien nach Berlin. Im Mai 2002 kamen sie an und fanden über Freunde eine Wohnung. »In dieser Zeit lernte ich online schon etwas Deutsch. Aber mehr als ›Hallo, wie geht’s?‹ konnte ich nicht.« Dina besuchte eine Sprachschule und konnte nach zwei Probewochen in die elfte Klasse der Jüdischen Traditionsschule von Chabad aufgenommen werden. Als Leistungskurse wählte sie Geschichte und Hebräisch, das sie schon in Moskau gelernt hatte. Mit ihrer Online-Lehrerin lernte sie in der Freizeit weiter. »Was mir half: Wir lernten nur die Worte und Grammatik, die ich im wirklichen Leben brauchte. Ich bin pretty good jetzt!«
»Sprechen ist wichtiger als Schreiben«, sagt Dina, »man darf keine Angst vor Fehlern haben und muss mit möglichst vielen Menschen sprechen.« Ihre Mitschüler und Lehrer unterstützten sie. Jeder müsse herausfinden, welche Form des Lernens am besten ist. »Ich kann unter Druck effektiver lernen.«
Die »Generation Z«, sagt sie und betont den Begriff wieder auf Englisch, sei gut unter Stress. Und man solle sich Ziele setzen. »Ich hatte das Ziel, möglichst schnell die Schule zu beenden und Mode zu machen.« Nun kam ihr gelegen, dass sie die achte Klasse an der Moskauer British Higher School of Art and Design absolviert hatte. Aufgrund ihrer Zeichnungen und Entwürfe wurde sie schon vor dem Abitur an der Uni angenommen.
Veronika ist jetzt in der 11. Klasse und steuert auf das Abitur zu. Und danach? Sie schwankt zwischen Lehramt, Journalismus und Marketing, »ich bin mir noch nicht sicher«. Sicher aber erscheint, dass sie mit einem gegenwärtigen Zweierschnitt alle Möglichkeiten dazu hat. Das ist eine kleine, gewaltige Erfolgsgeschichte in nur zwei Jahren. Nur das Neujahrsfest ist ohne ihren Vater nicht dasselbe. »Wir versuchen die Tradition zu leben und feiern an der jüdischen Schule.« Aber ohne ihren Vater werde es zu Hause in diesem Jahr wohl nur ein Abendessen geben. »Das ist schade.«
Übersetzen von Dokumenten, Termine auf der Bank oder bei Ämtern
Der Schlüssel war für Veronika die Sprache. »Man muss die Angst überwinden. Bücher lesen und fernsehen, man lernt über das Zuhören. Und man muss deutsche Freunde finden, dann geht es schneller«, rät sie anderen Neuankömmlingen. Sie selbst hilft jetzt ihrer Mutter und ihrem Bruder beim Deutschlernen. Und älteren Geflüchteten beim Übersetzen von Dokumenten, Terminen auf der Bank oder bei Ämtern. »Die ältere Generation lernt nicht so schnell.«
Dina wiederum war im letzten Jahr bereits allein in Israel und feiert Rosch Haschana bei Chabad. Auch sie hilft ihren jüngeren Geschwistern jetzt beim Lernen und gibt ihnen gerne einen Tipp: »ChatGPT! Künstliche Intelligenz ist ein prima Übersetzer«, lacht sie. »Aber im Ernst: Die Sprache ist das Wichtigste.«