Zeitzeugen

»Benehmt euch anständig!«

Anita Lasker-Wallfisch Foto: Marco Limberg

Einen solchen Auflauf erlebt das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt nicht alle Tage: Die dicht gestellten Bänke im Seminarraum sind ebenso gut gefüllt wie die Hocker, die noch eilends am Rand verteilt werden – und das, obwohl der Ehrengast des Nachmittags noch gar nicht zu sehen ist: Anita Lasker-Wallfisch lässt es sich nicht nehmen, vor dem Haus noch eine Zigarette zu rauchen.

Schließlich betritt die kleine, weißhaarige Dame zielsicheren Schrittes den Saal, »eine der prominentesten Zeitzeuginnen des Nationalsozialismus«, wie sie André Schmitz-Schwarzkopf, ehemaliger Kulturstaatssekretär von Berlin und Vorstandsmitglied des Museumsfördervereins, begrüßt. Die Veranstaltung soll Gelegenheit bieten, mit der »Cellistin von Auschwitz ins Gespräch zu kommen: Die 91-Jährige ist eine der letzten Überlebenden des Frauenorchesters.

identität Ohne Umschweife beginnt der Einblick in das unglaubliche Leben dieser beeindruckenden Frau, die trotz ihres hohen Alters mit fester Stimme und gerader Haltung in ihrem Sessel sitzt: 1925 wurde sie in Breslau als jüngstes von drei Kindern in eine gutbürgerliche deutsch-jüdische Familie geboren, die von Lasker-Wallfisch selbst als »kulturverrückt« bezeichnet wird: Der Vater, ein renommierter Anwalt, habe gerne gesungen, die Mutter war Geigerin.

Ihre beiden älteren Schwestern Marianne und Renate lernten ebenso wie sie selbst ein Instrument, doch nur bei ihr verfing die Liebe zum Musizieren – zum Cello – wirklich. Es sollte ihr später das Leben retten. »Wir waren Deutsche, bevor wir Juden waren«, beschreibt Lasker-Wallfisch die bestimmende Identität ihrer Familie. Vor allem der Vater, Träger des Eisernen Kreuzes, habe sich ein Andauern des »Nazi-Spuks« nicht vorstellen können.

Lasker-Wallfisch erzählt von ihrer Kindheit in Breslau, der zunehmenden Judenfeindlichkeit, vor der schließlich auch die Eltern nicht länger die Augen verschließen können, schließlich der Zwangsarbeit, die sie mit ihrer Schwester Renate in einer Fabrik für Toilettenpapier leisten muss. Die älteste Schwester Marianne ist zu jener Zeit bereits nach England ausgewandert mit dem Ziel, »irgendwann nach Palästina« überzusetzen. 1942 werden die Eltern deportiert und vermutlich kurz darauf ermordet, die zurückbleibenden Mädchen müssen sich allein durchschlagen.

erinnerungen Obwohl von draußen Baulärm ins Museum dringt, hängen die Zuhörer an den Lippen von Lasker-Wallfisch. Man merkt, dass sie oft von ihrem Leben erzählt, sei es vor Schulklassen oder anderen Gelegenheiten. Dabei wirken ihre Sätze weder einstudiert noch abgenutzt. Vielmehr schöpft sie aus den Erinnerungen eines vielschichtigen Lebens.

Nachdem sie und Renate Papiere für französische Kriegsgefangene fälschten und schließlich selbst nach Paris fliehen wollten, werden die beiden noch am Hauptbahnhof von Breslau verhaftet und ins Gefängnis abtransportiert. Im September 1943 wird Lasker-Wallfisch nach Auschwitz deportiert. »Was im Lager los war, ist nicht zu erzählen«, betont sie und fügt hinzu: »Mir ist auch nicht wichtig, dass junge Leute das nachvollziehen – lieber sollen sie sich heute anständig benehmen.«

Als bekannt wird, dass sie Cello spielen kann, wird sie Teil des Frauenorchesters im KZ – ihre Rettung: »So lange die Musik haben wollten, wäre es kontraproduktiv gewesen, uns ins Gas zu schicken«, bemerkt sie trocken. Die Aufgabe des Orchesters war es, jeden Morgen und jeden Abend Märsche für die Tausenden von Häftlingen zu spielen, die außerhalb des Lagers arbeiteten. Auf die Frage, wie sie sich dabei gefühlt habe, antwortet sie: »Gefühle sind ein Luxus, den man sich zu dieser Zeit nicht erlaubt hat.«

befreiung Zusammen mit ihrer Schwester wird sie im November 1944 nach Bergen-Belsen überführt. »Während man uns in Auschwitz auf hoch entwickelte Weise ermordet hat, war das in Belsen nicht nötig: Da ist man einfach krepiert.«Am 15. April 1945 wird das Lager durch die britische Armee befreit – für Lasker-Wallfisch ihr zweiter Geburtstag, den sie mit den anderen überlebenden Orchestermitgliedern noch Jahre später am Telefon feierte. Sie wandert nach Großbritannien aus, wo sie das Londoner English Chamber Orchestra mitbegründet und bis 2000 rund um den Globus tourt.

1997 veröffentlicht sie unter dem Titel Ihr sollt die Wahrheit erben. Die Cellistin von Auschwitz ihre Lebensgeschichte bis zur Befreiung. In dem bewegenden Zeugnis erzählt sie erstmals von ihren Erfahrungen während des Holocaust. »Ich wurde vorher eben nicht gefragt« kommentiert sie das lange Schweigen bis zur Veröffentlichung des Buches.

An jenem Nachmittag im Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt wollen die Fragen hingegen kein Ende nehmen. Unermüdlich und mit viel Energie beantwortet Lasker-Wallfisch jede einzelne. Besonders energisch wird sie am Ende, als jemand wissen will: »Was sind Sie heute? Deutsche? Jüdin? Britin?« Ihre klare Antwort: »Ich bin die Anita Lasker-Wallfisch.«

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