Es ist eine geradezu paradoxe Situation: Ausgerechnet zu Pessach, zum Fest der Freiheit, ist die Freiheit der jüdischen Gemeinschaft (und nicht nur ihre) weltweit eingeschränkt, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den meisten Staaten nicht mehr der Fall war. Israel, wohin so viele Juden der Diaspora zu Pessach gerne fahren, fällt derzeit als Reiseziel weg.
Und um den Blick über Pessach hinaus zu weiten: Die Freiheitsbeschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie fallen genau in das Jahr, in dem wir allerorten der Befreiung vor 75 Jahren gedenken wollten – der Befreiung vom Joch des Nationalsozialismus, der Befreiung der Konzentrationslager.
gedenkfeiern Es ist dies ein besonders bitterer Randaspekt der Corona-Krise: Denn auch die Gedenkfeiern mussten alle abgesagt werden. Gerade die hochbetagten Überlebenden will natürlich niemand gesundheitlich gefährden. Für viele dieser Menschen wäre es vermutlich zum letzten Mal die Möglichkeit gewesen, zu einem runden Jahrestag mit größerer öffentlicher Aufmerksamkeit der Befreiung zu gedenken.
Stattdessen finden sie sich ebenso wie wir alle in einer völlig außergewöhnlichen Situation wieder: In diesem Jahr werden wir Pessach außerhalb der Synagogen begehen. Manch einer wird den Sederabend alleine verbringen, viele können nicht wie gewohnt ihre Verwandten besuchen. Übrigens trifft dies die Christen genauso, die ihre höchsten Feiertage – Karfreitag und Ostern – wohl auch nicht in der Kirche und vielleicht nicht mit der Familie verbringen können.
Für unsere Demokratie und für uns alle als Demokraten ist dies eine Bewährungsprobe.
Für unsere Demokratie und für uns alle als Demokraten ist dies eine Bewährungsprobe. Wir sollten uns vergegenwärtigen, welche Grundrechte momentan eingeschränkt sind: die Religionsfreiheit, die Versammlungsfreiheit, das Schulwesen und die Reisefreiheit. Auf Letzteres hat die Bundeskanzlerin in ihrer Fernsehansprache besonders hingewiesen, weil es sie als einstige DDR-Bürgerin besonders schmerzt.
einschränkungen Viele Menschen werden darüber hinaus noch stärker mit der Einschränkung der Konsumfreiheit hadern. Nicht nur der Konsum von Gütern, sondern auch der von Kunst und Kultur ist stark erschwert und nur noch in wenigen Geschäften oder von zu Hause aus möglich, sei es über traditionelle Medien oder online.
Die sozialen Folgen, die die Corona-Krise in Gänze haben wird, sind überhaupt noch nicht abzusehen. Doch schon jetzt ist klar, dass sie für viele Menschen eine existenzielle Bedrohung ist und für noch viel mehr Menschen eine enorme psychische Belastung. Der Begriff »Social Distancing« hat das Zeug dazu, Wort des Jahres 2020 zu werden. Das Virus birgt ein großes Potenzial, um zu sozialer Isolierung und zu Vereinsamung ebenso zu führen wie zu Aggression und mehr häuslicher Gewalt.
Angesichts dieser massiven Beschränkungen unserer persönlichen Freiheit sind wir uns gerade in der jüdischen Gemeinschaft jedoch einer Tatsache bewusst: Unter uns wissen wir nämlich Menschen, die Überlebenden der Schoa, die schon einen viel größeren Freiheitsentzug erlebt haben. Nicht nur einen vollständigen Freiheitsentzug, sondern einen Entzug der Menschlichkeit.
freiheiten Wir sollten uns – bei aller Belastung durch diese Krise, die ich nicht kleinreden will – daher vor Augen führen, wie viele Grundrechte und Freiheiten wir immer noch haben. Es gilt noch immer die Unversehrtheit der Wohnung. Es gilt die Presse- und Meinungsfreiheit. Wir dürfen frei entscheiden, welche Medien wir konsumieren, was wir essen, ob wir (so weit möglich) Sport machen oder auf dem Sofa liegen.
Auch unsere Gesundheit wird weiterhin geschützt. Da ich hauptberuflich Arzt bin, ist mir wichtig zu betonen: Es geht nicht nur um Corona. Wir Mediziner nehmen die anderen Erkrankungen weiterhin ernst und behandeln sie. Jeder hat das Recht, angemessen gesundheitlich betreut zu werden.
Die Einschränkungen dürfen kein Dauerzustand werden!
Es gibt auch weiterhin die Möglichkeit, den Rat von Rabbinern in Anspruch zu nehmen. Wer die derzeitigen Online-Angebote nicht verfolgen kann, kann sich telefonisch an die Gemeinden und Rabbiner wenden. Gerade in dieser schweren Zeit braucht es Trost und Zuspruch.
Und es braucht Zusammenhalt.
Das ist unter dem Gebot der »sozialen Distanzierung« leichter gesagt als getan – doch es ist möglich. Sei es die Einkaufshilfe oder der freundliche Gruß von Balkon zu Balkon, sei es ein aufmerksames Zuhören am Telefon sowie ein Brief oder Päckchen, das Freude bereitet.
entschleunigung Im besten Fall wird diese Krise auch Positives bewirken – eine Entschleunigung unseres Alltags, einen freundlicheren Umgangston, wieder mehr Vertrauen in die politischen Entscheidungsträger.
Doch zugleich gilt: Alle Auflagen und Einschränkungen dürfen kein Dauerzustand werden! Wir sollten jetzt weniger Demokratie akzeptieren, aber hinterher – um mit Willy Brandt zu sprechen – wieder mehr Demokratie wagen! Und zwar mehr als vor der Corona-Krise.
In dieser außergewöhnlichen Zeit wünsche ich Ihnen und Ihren Familien ein Pessachfest, das Sie stärkt und Mut macht! Pessach Kascher we-Sameach!
Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. In russischer Übersetzung steht der Text online unter:
www.zentralratderjuden.de/pessach-russisch