An manchen Tagen klingelt mein Handy bereits am Vormittag. Ob ich sofort kommen könnte, um zu helfen, werde ich gefragt. Dann weiß ich, dass wieder ukrainische Flüchtlinge in Bielefeld angekommen sind, die Unterstützung brauchen.
Entweder heißt das für mich, dass ich schnell zum Möbelschleppen kommen soll, denn die Wohnung, die für sie vorgesehen ist, ist leer, oder ich werde als Dolmetscher gebraucht. Meistens ist es meine Mutter, die mich anruft, da sie die Sozialarbeiterin der Kultusgemeinde ist. Und sie ruft nicht nur mich, sondern auch meinen Vater an.
Möbelschleppen So kommt es, dass wir zu dritt anpacken. Ich bin ein Junge für alles – und das bin ich gerne. Wenn ich um etwas gebeten werde, mache ich es am Ende immer, auch wenn es mir zeitlich vielleicht gerade nicht hundertprozentig passt. So versorgen wir im Team mit anderen Gemeindemitgliedern und der Vorsitzenden Irith Michelsohn 170 Flüchtlinge. Alle konnten eine Wohnung beziehen. Unser Kantor Paul Yuval Adam ist beim Möbelschleppen mit dabei, nachdem eine andere Familie die Wohnung vorher geputzt hat. Ich möchte den Flüchtlingen einen Hauch von Normalität vermitteln. Es ist mir extrem wichtig, dass sie sich hier wohlfühlen und unsere Fürsorge spüren.
Wir wurden auch nicht links liegen gelassen, als meine Eltern, meine ältere Schwester und ich aus Orechowo-Sujewo nach Bielefeld kamen. Meine Hilfe bei den Flüchtlingen führt mich auch wieder an mein altes Gymnasium, denn dort werden die Jugendlichen beschult. Sie erhalten Deutschunterricht und werden so weit wie möglich integriert. Der Direktor nennt mich nun den »Botschafter der Jüdischen Gemeinde«. Man tut, was man kann, denke ich da mit einem Augenzwinkern.
Ich war fünf Jahre alt, als wir nach Deutschland kamen und bald in eine eigene Wohnung ziehen konnten. Allerdings muss ich gestehen, dass ich so gut wie keine Erinnerung an die Zeit in Russland habe. In einer Stadt in der Nähe von Moskau wuchs ich auf.
Spielfreunde Ziemlich zügig kam ich in die Kita, die praktischerweise gegenüber der Synagoge war. Während meine Eltern Deutsch- und Integrationskurse wahrnahmen, wurde ich ins kalte Becken geworfen und musste ohne Deutschkenntnisse zusehen, wie ich klarkam. Nach wenigen Monaten beherrschte ich die Sprache, das ging fix. Und in der Kita war mir nie langweilig, denn es gab genügend Spielkameraden. Nach ein paar Monaten zogen wir um, sodass wir nun einen längeren Weg zur Synagoge haben.
Dort leben wir immer noch. Meine Mutter wusste, dass sie auch in Deutschland als Sozialarbeiterin tätig sein wollte, und absolvierte ein Studium, hingegen nahm mein Vater jeden Job an, nur um Geld zu verdienen.
Später habe ich den Wunsch gespürt, Rabbiner zu werden.
Mit dem Abitur in der Tasche dachte ich, vielleicht Steuer- oder Finanzberater zu werden, und schrieb mich für Wirtschaftsmathematik ein. Ich hatte den Eindruck, dass mir Mathematik liegt und mir Spaß bringt. Doch es ist nicht viel daraus geworden. Es war nicht so ganz das Richtige für mich. Seitdem studiere ich Soziologie und möchte nun demnächst den Bachelor machen.
Taxifahrt Es ist ein spannendes Fach, denn es ergeben sich neue Perspektiven, und ich lerne viel über Kommunikation. Es ist übrigens die einzige Uni in Deutschland, die eine Fakultät für Soziologie hat, und unsere Professoren erinnern uns mit Stolz jeden Tag daran. An anderen Unis wird es untergeordnet angeboten. Gleichzeitig mahnen sie uns, fleißig zu studieren, damit wir keine Zweitkarriere als Taxifahrer starten müssen. Durch das Studium habe ich eine große Begeisterung für Politik und Geschichte entwickelt. Später würde ich gerne in der Organisationsberatung oder Konfliktforschung arbeiten.
Da ich morgens noch nicht weiß, wo ich am späten Vormittag gebraucht werde, versuche ich, schon viel für die Uni zu erledigen. Die meisten Vorlesungen und Seminare beginnen um 8.30 Uhr.
Als kleiner Junge wollte ich Straßenbahnfahrer werden, was wohl mit daran lag, dass ich sieben bis acht Stationen brauchte, um beim Gemeindehaus anzukommen. Später habe ich den Wunsch gespürt, Rabbiner zu werden. Damals wurde die neue Synagoge geplant und später gebaut. Ich ging gerne zur Baustelle und konnte mir nicht so recht vorstellen, dass daraus ein Gotteshaus entstehen kann. 2008 war es dann so weit, da wurde die Synagoge eingeweiht. Zwei Jahre später feierte ich meine Barmizwa.
Für mich war Rabbiner Henry Brandt sel. A. eine beeindruckende Persönlichkeit. 20 Jahre lang kam er regelmäßig aus der Schweiz über Augsburg, wo er auch im Einsatz war, um bei uns zu amtieren. Nach 70 Jahren Kommunismus in der Sowjetunion war nicht mehr viel Wissen über das Judentum vorhanden. Bei meinen Eltern und meiner Oma stand noch im Pass, dass sie Juden sind. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das nicht mehr der Fall. Dass ich Jude bin, erfuhr ich erst später von meinen Eltern. Und nun kam Rabbiner Brandt sel. A. und schaffte es, die begrabenen jüdischen Wurzeln freizulegen und ein jüdisches Leben aufzubauen.
Traum Ein paar Jahre hegte ich diesen Traum, den gleichen Beruf auszuüben. Neben meiner Familie habe ich hier keine Verwandtschaft – aber Rabbi Brandt gehörte für mich dazu. In der Synagoge amtieren immer wieder Studenten des Abraham Geiger Kollegs. Einige von ihnen rieten mir, erst einmal etwas anderes zu machen, etwas Vernünftiges. Lebenserfahrungen sammeln, selbst Krisen erlebt haben – das wäre schon nicht schlecht. Danach könne ich immer noch Rabbiner werden. Rückblickend muss ich sagen, dass mir diese Ratschläge geholfen haben. Aber wer weiß, ich sage niemals nie.
Mit neun Jahren fuhr ich zum ersten Mal zum Machane nach Österreich, auf das noch mehrere folgten. Klar, dass ich an der Madrichim-Ausbildung teilnehmen wollte. Als ich 18 Jahre alt war, war ich zum ersten Mal als Madrich dabei. Es war ziemlich anstrengend, denn die Nächte sind sehr kurz. Als Betreuer war ich der Letzte, der schlafen ging, und der Erste, der aufstand. Wenn die Kids abends schliefen, saßen wir Erwachsenen zusammen und planten den nächsten Tag. Dann gingen die Vorbereitungen ins Detail, und wenn ich dann auf die Uhr geschaut habe, war es plötzlich zwei oder drei Uhr in der Nacht. Um 6.30 Uhr stand ich immer auf, damit ich um sieben Uhr die Kinder wecken konnte. Tagsüber mussten wir immer auf die Kids aufpassen, denn wir wollten sie gesund bei den Eltern wieder abliefern.
Nun wollte ich mich noch mehr in der Jugendarbeit der Gemeinde einbringen. Mittlerweile gab es mehrere Betreuer, wir trafen uns zum Spielen, Basteln und Quatschen. Im Familienzentrum, das von Stephanie Bartneck geleitet wird, gibt es einmal eine Gruppe für Familien mit kleineren Kindern, und eine weitere für Jugendliche. Da sind zwei weitere Madrichim und ich aktiv, und wir kümmern uns um abwechslungsreiche Programme.
Den Gemeinde-Newsletter gestalte ich seit einigen Jahren, denn ich finde, dass man sehen muss, was die Gemeinde alles auf die Beine stellt und anbietet. Mit meinen Freunden gehe ich gern ins Kino, oder wir treffen uns auf virtuellen Plattformen. Dort diskutieren wir über die aktuelle Lage und andere tiefgreifende Themen. Da bin ich immer glücklich, dass ich Freunde habe, die an ähnlichen Themen interessiert sind und wir uns über alles Mögliche unterhalten können.
Radfahren Ich bin kein großer Sportler, nur Radfahren und Wandern kann ich leiden. Letzteres am liebsten in Österreich in den Bergen. Aber auch flaches Land mag ich, weil da die Füße länger mitmachen und ich weiter laufen kann. Ab und zu genieße ich natürlich auch die Serien. Da kann es schon mal passieren, dass ich eine komplette Staffel durcharbeite, wenn sie eine gute Story erzählt. Fantasy-Romane und Thriller lese ich gerne. Jüngst nahm ich an einer Stadtführung zum Judentum teil.
Ich war überrascht, wie viel ich noch in der Lokalgeschichte dazulernen konnte. Natürlich wusste ich, dass die Synagoge während der Pogromnacht brannte. Sie war aus Stein gebaut, aber die Kuppel, 41 Meter hoch, war aus Holz. Sie brannte nieder – und die Rechnung für die Aufräumarbeiten ging an die Gemeinde. Umso wichtiger ist es für mich, gerade in diesen Zeiten, wo der Antisemitismus immer öfter und vor allem in stets offenerem Maße hervorbricht, wo er bisher eher unter der Oberfläche gebrodelt hat, das Gedenken an die Vergangenheit aufrechtzuerhalten. Das ist keine Bürde, sondern eine Verpflichtung, dieses dunkle Kapitel der Menschheit nicht verschwinden zu lassen.
Unsere Synagoge heißt »Beit Tikwa«, übersetzt bedeutet es Haus der Hoffnung – das finde ich einen schönen, treffenden Namen für meine Gemeinde.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt