Likrat

Begegnungen auf Augenhöhe

Mahmud und Kevin kommen ins Klassenzimmer. Vorne sitzen zwei Jugendliche, Mahmud guckt und sagt zu Kevin: »Ich denke, wir sollen heute zwei Juden treffen. Was machen die denn dort vorne?«

Die Situation ist echt, die Namen nicht. Daniel Botmann erzählt von einem Treffen, so wie ihm das neueste Begegnungsprojekt Likrat vom Zentralrat der Juden in Deutschland am liebsten wäre.

Jugendliche treffen sich auf Augenhöhe. Zwischen Juden und Nichtjuden gibt es nicht so viele Unterschiede, wie viele denken. »Genau das will Likrat verdeutlichen«, betont der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden. Dieser Tage geht es bundesweit an den Start. Rund 42 junge Juden wurden ein Jahr lang von Profis ausgebildet und sind nun bereit, sich mit Jugendlichen ihres Alters an Schulen im gesamten Bundesgebiet zu treffen.

Judentum »Wir können in 90 Minuten nicht das Judentum von A bis Z erklären oder gar den Nahostkonflikt lösen, sondern wir wollen uns einfach treffen und miteinander reden. Junge Menschen gleichen Alters, jüdisch und nichtjüdisch.« Ziel sei es zu zeigen, dass sie eigentlich sehr ähnlich sind: Hertha-, Bayern-München- oder Dortmund-Fans sind, die gleiche Musik hören, in die selben Konzerte gehen. »Begegnung auf Augenhöhe«, betont Botmann immer wieder. Junge Juden wollen junge Nichtjuden treffen, ihnen ihren Alltag vorstellen, der sich nicht wesentlich von dem anderer junger Menschen unterscheidet und dennoch etwas anders ist. Das kleine bisschen Anderssein wollen sie Schülern erklären, ein wenig vom Judentum im heutigen Deutschland zeigen.

Das jetzige Projekt hat Vorbilder. Likrat hat seine Ursprünge in der Schweiz. In Österreich und Moldawien gibt es bereits diese Art von Begegnung, in Griechenland wird sie ebenfalls jetzt gestartet. Von 2007 bis 2013 gab es Likrat in einigen Regionen Deutschlands ebenfalls schon. Als Pilotprojekt initiiert von der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg in Baden, in Bayern und Nordrhein-Westfalen. 2012 wurde »Likrat – jugend & dialog« sogar schon einmal im Rahmen des Wettbewerbs »Beste Bildungsideen« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung sowie der Vodafone-Stiftung in Heidelberg ausgezeichnet. Jetzt wurde das Konzept noch einmal überarbeitet und soll demnächst flächendeckend und bundesweit für Schulen abrufbar sein.

Anfragen gibt es jetzt schon reichlich. »Das sind alles Initiativanfragen von Schulen«, zeigt sich der Zentralratsgeschäftsführer erfreut. In welchem Schulfach die jungen Juden sich mit ihren nichtjüdischen Altersgenossen treffen, ist völlig unterschiedlich. »Es kann im Religions-, Ethik- oder Geschichtsunterricht sein – Fächer, in denen man auf das Thema Judentum trifft, aber warum nicht auch in Mathe?«

Vielfalt Die Schüler und die sogenannten Likratinos sind zwischen 15 und 19 Jahre alt. »Idealerweise gehen immer ein Mädchen und ein Junge unterschiedlicher religiöser Ausrichtung in eine Klasse«, sagt Botmann, denn man wolle das ganze Judentum abbilden, nicht einseitig ein orthodoxes oder liberales. Und so sollten die Likratinos auch aus ihrem Leben erzählen, das tief religiös, traditionell oder gänzlich unreligiös ablaufen kann. »Wir freuen uns über eine Vielfalt religiöser Strömungen, um so ein möglichst breites Bild des Judentums zeigen zu können. Daher sind wir für alle Denominationen des Judentums sehr offen«, sagt der Geschäftsführer.

Gefunden wurden die bislang 42 Likratinos über verschiedene Wege. Likrat warb etwa bei der Jewrovision im Februar dieses Jahres, schrieb die Gemeinden an oder wandte sich an jüdische Jugendliche. Schnell hätten sich 20 und dann 38 junge Leute gemeldet, erzählt Botmann. Er findet es beeindruckend, wie aufgeschlossen sich die Jugendlichen für dieses Projekt zeigten. »So etwas erleben wir sehr selten, dass die Begeisterung für ein neues Projekt so schnell und stark wächst.«

Dabei spiele nicht nur die Tatsache eine Rolle, dass man sich einfach mit Gleichaltrigen trifft und aus seinem Leben erzählt. Die Ausbildung der Likratinos ist auch einzigartig. An vier Wochenenden im Jahr werden sie geschult. Die Referenten kommen aus Israel und aus der Schweiz. »Das sind Profis, die normalerweise Manager aus Topetagen schulen.« So ziemlich alles steht auf dem Ausbildungsplan: Rhetorik, Mimik, Körpersprache, Krisenbewältigung und natürlich Inhaltliches über das Judentum, Israel, Politik, Geschichte und vieles mehr.

Vorbereitung Die jüdischen Jugendlichen sollen gut vorbereitet sein, damit sie auf kritische oder vielleicht sogar provozierende Fragen ihrer Altersgenossen reagieren können. Selbst Pädagogik steht auf dem Programm. Wie verhalte ich mich, wenn einige Schüler querschießen, stören, provozierende Bemerkungen machen?

»Unsere Leute sind wirklich bestens vorbereitet«, sagt Botmann. »Wir scheuen keine provokanten Fragen.« Dafür habe man unzählige Situationen simuliert und durchgespielt. Die Likratrainees, diejenigen also, die sich in der Ausbildung befinden, haben immer wieder die Rollen der provozierenden und kritischen Jugendlichen eingenommen, um die Sicht der nichtjüdischen jungen Leute kennenzulernen.

Und wenn sie erste Erfahrungen bei Treffen gemacht haben, geht es mit der Schulung weiter. Es sind Folgeseminare angedacht, bei denen die Likratinos ihre Erlebnisse schildern und daraus Ideen für die weiteren Treffen mit nichtjüdischen Jugendlichen entwickeln können. Außerdem will man sich auch gern mit Likrat-Leuten aus den anderen Ländern, wie etwa Österreich und der Schweiz, aber auch aus Moldawien und Griechenland, austauschen.

Aufwand Für ihre Ausbildung und die Begegnungen vor Ort investieren die Jugendlichen viel Zeit. Es sei schließlich nicht unerheblich, wenn junge Leute sich auf die Treffen in den Schulen so intensiv vorbereiten und selbst für das Abitur oder andere Schul- und Ausbildungsabschlüsse lernen müssten. »Aber es ist ein Ausbildungstraining fürs Leben«, sagt Daniel Botmann. »Und es wirkt in vielerlei Hinsicht: Die Jugendlichen werden nicht nur für ihre Aufgabe an den Schulen ausgebildet, für sie wirkt sie sich auch identitätsbildend aus. Und die Gemeinden finden unter ihnen die Führungskräfte von morgen.«

Die persönlichen Hintergründe der Likratinos sind höchst unterschiedlich. Wer von ihnen aus einer alteingesessenen jüdischen Familie stammt oder zugewandert ist, lässt sich gar nicht mehr ausmachen, sagt der Geschäftsführer. Sicher werden darunter viele Zuwandererkinder sein. »Aber das ist auch gut so, denn ihre Migrationserfahrung kann bei den Gesprächen eher von Vorteil sein. Die Geschichte ihrer Eltern, die Einwanderungserfahrung, damit werden sie sicherlich in der heutigen Schulsituation auf ähnliche Sozialisationen stoßen.«

Wirkung Botmann ist überzeugt von der positiven Wirkung von Likrat. »Wir wollen natürlich Antisemitismus vorbeugen, indem wir Klischees abbauen und zeigen, dass wir eben nicht alle mit langen Röcken und in schwarzen Kaftanen mit Pelzhüten und Schläfenlocken herumlaufen, so wie Juden heute nach wie vor in Schulbüchern dargestellt werden. Der eine hält Schabbat, der andere weniger. Und nicht immer kocht die Mutter am Freitagnachmittag, manchmal ist es eben auch der Vater, weil die Mutter noch arbeiten muss.« Der ganz normale – jüdische – Alltag solle eben gezeigt werden.

Er sei einmal von einem Lehrer gefragt worden, ob er sich bei einer solchen Begegnung nicht »wie im Zoo fühle«, erzählt Botmann. Jüdische Jugendliche befänden sich tagtäglich in einer Begegnung, wenn sie mit ihren nichtjüdischen Freunden oder Klassenkameraden zusammen sind. »Aber genau deswegen wollen wir rausgehen und zeigen: Wir sind als Jugendliche nicht anders als ihr.« Und genau deshalb haben Mahmud und Kevin ihren Besuch eben auch nicht als die jüdischen Gäste erkannt.

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