Man muss schon zweimal hinschauen, um das »Café am Belvedere« zu entdecken. Zumindest im Winter, wenn draußen weder Stühle und Tische noch das Klappern von Tellern und Kuchengabeln auf ein Lokal hindeuten: Ein paar Schritte hinter dem Landgericht, Richtung Brahestraße, an der Ecke nach rechts abbiegen, schon steht man vor einem meergrünen Türrahmen mit ovalem Schild.
Ein Blick, und es zieht einen unwiderstehlich hinein: Anheimelndes Licht schimmert durch die vor Kälte beschlagenen Fenster, drinnen verspricht die Speisekarte Kaffeespezialitäten, Frühstück und Mittagssnacks wie Soljanka, Pelmeni und Blinis – süße oder auch herzhaft gefüllte russische Teigtaschen.
einladend Ein gutes Dutzend Bistrotische, Korbstühle und cremefarbene Ledersessel verströmt eine gemütliche Kaffeehaus-Atmosphäre. Auf den Fensterbänken laden Zeitungen, Kinderbücher und Tortenkataloge zum Durchblättern ein. Hier möchte man gern länger bleiben. Vor allem beim Anblick der prallgefüllten Theke: Rechts stapeln sich goldgelbe Bagels, appetitlich nach Sorten aufgereiht, links thronen hausgemachte Kuchen, Torten und Brownies.
»Sonntags stehen die Leute sogar bis zur Ecke an«, erzählen Diana und Veronika Goldenberg, die beiden Chefinnen. Dabei waren die Schwestern anfangs skeptisch, ob das Konzept aufgeht. »Apfelkuchen, Pelmeni, Bagel? Die Mischung der Kulturen – deutsch, russisch, jüdisch – war ein Wagnis«, erinnert sich Veronika. »Doch so sind wir aufgewachsen: deutsch, russisch, jüdisch. Multikulturell eben«, ergänzt Diana.
Der Erfolg scheint ihnen recht zu geben. Seit der Eröffnung vor vier Jahren ist das Café jeden Tag gut besucht. Und die Goldenbergs sind mit dem Kiez vertraut. Hier in der Gegend sind sie aufgewachsen: Diana wohnt ein paar Blocks weiter, Tür an Tür mit ihrer Mutter Inessa, ihrer Großmutter Sila und Orly, der jüngsten Schwester.
Traditionen Die Großeltern wanderten in den 70er-Jahren aus Minsk nach Israel aus. Doch der Großvater vertrug das Klima nicht, die Familie zog weiter nach Deutschland. In Berlin wurden Veronika, Diana und Orly geboren. Sie wuchsen mit jüdischen Traditionen und Festen auf, aber ohne jüdische Schule. Für Diana ein kleiner Wermutstropfen, sie würde heute gern jüdischer leben.
»Unsere Eltern wollten sich so schnell wie möglich integrieren. Dazu gehörten staatliche Schulen. Ihre Ängste aus Weißrussland hatten sie wohl immer noch im Gepäck«, vermutet die junge Cafébesitzerin. Heute geht sie manchmal in die Synagoge – wenn der Vollzeitjob im Café es zulässt. Nur am Samstag steht alles still in dem Café.
»60 Jahre lang war hier ein Blumenladen«, erzählt Diana. Als das alte Geschäft vor vier Jahren schloss, ergriff sie die Chance. Ein eigener Laden, davon hatte die Ingenieurin für Lebensmitteltechnologie schon lange geträumt. Zeitlich passte alles zusammen: Ihre ältere Schwester Veronika war gerade mit ihrer Tochter aus Israel zurückgekehrt, sie selbst hatte nach dem Studium in der männerdominierten Lebensmittelbranche nur schwer Fuß fassen können. Kurzerhand beschlossen die Schwestern, sich gemeinsam selbstständig zu machen.
Patisserie »Ohne Veronika hätte ich diesen Schritt vielleicht nie gewagt«, sagt Diana lächelnd. Die beiden ergänzen sich gut: Veronika schließt morgens auf, belegt Wraps und dekoriert Frühstücksteller und Kuchen mit viel Gespür fürs Detail. Später übernimmt Diana und bleibt bis zum Abend. Und dann sind da ja auch noch die anderen Goldenberg-Frauen, die einspringen, wenn’s eng wird: Mutter Inessa, Großmutter Sila und Abiturientin Orly verzaubern Familie und Gäste immer wieder aufs Neue mit ihren leckeren Patisserie-Künsten.
Die Gäste wissen diesen Einsatz zu schätzen. Hermann Josef etwa frühstückt hier jeden Morgen. Auf dem Heimweg vom Labor schaut er oft nochmal auf ein Stück Apfelkuchen herein. »Der Kuchen schmeckt einfach überragend«, schwärmt der Stammgast. »Saftig und leicht.«
Auch ein Rechtsanwalt vom benachbarten Landgericht ist Stammgast im Belvedere. »Man schmeckt das Selbstgemachte, die Liebe«, sagt er, bevor er mit seinem Blancoccino, einem Espresso mit weißer Schokolade, zurück zur Arbeit eilt, während andere Gäste wie Zoe derweil ihr zweites Stück Kuchen bestellen. »Es ist einfach so gemütlich hier«, schwärmt die Studentin.
Lesungen Auch, weil man sich gegenseitig hilft: Nicht selten trägt Orly älteren Damen die Einkaufstüten nach Hause oder Veronika drückt einem Nachbarjungen eine Box Pelmeni mit israelischer Hühnersuppe in die Hand. An vielen Abenden organisieren die Goldenberg-Frauen Lesungen, Kulturabende und Musikauftritte im Café.
Während Veronika Orangensaft presst und dabei über die Schulter mit den Gästen plaudert, platziert Diana eine frisch gebackene Walnusstorte neben Himbeertarte und Cupcakes. Die Goldenbergs kennen ihre Gäste, deren Geschmack, Gewohnheiten und auch so manche Lebensgeschichte. Heute ist es so manches Mal Oma Sila, die die Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Die elegante alte Dame weiß viel zu erzählen: von jüdischen Handwerkern, die einst dem Ruf von Katharina der Großen nach Russland folgten, von Emigration und Neuanfang in Israel und Deutschland, von jüdischen Biografien und Kreisen, die sich auf geheimnisvolle Weise schließen.
Ihre Enkelinnen nennt Sila stolz »Kunsthandwerkerinnen« – das liege schließlich seit den Urahnen in der Familie. Die muss spätestens im Sommer wieder in voller Stärke mithelfen, freut sich die Großmutter und zwinkert den jungen Frauen hinter der Theke liebevoll zu. Dann beginnt die Saison für Touristen und Spaziergänger.
Café am Belvedere, Tegeler Weg 23a, 030-38307354
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