Die Instrumente sind gestimmt, hier und da klingt für den Bruchteil einer Sekunde eine Melodie an. Die jungen Musiker des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn bereiten sich auf ihren Auftritt vor. Im Gemeindehaus in der Fasanenstraße huschen am Mittwochabend nervöse Blicke durch den Saal. Die fast 500 Gäste scheinen sich zu fragen: Wann kommt sie? Handys liegen zum Fotografieren bereit, Hälse recken sich.
Dann ist es endlich so weit. Und auch die Ehrengäste wie Ruth Galinski, der Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Wowereit, Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker oder die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth drehen sich um, als Bundeskanzlerin Angela Merkel den Saal betritt.
Menschen Ganz schlicht wirkt die 58-Jährige in ihrem grünen Jackett, obwohl sie von einer Menschentraube umringt ist, während sie durch den großen Raum geht. Dass sie nicht nur später beim Verlassen, sondern auch schon beim Betreten des Saals mit stehenden Ovationen begrüßt wird, das passiert der Kanzlerin bestimmt auch nicht alle Tage.
Der Preis, den Merkel entgegennimmt, ist nach dem Mann benannt, dessen übergroßes Bild an der Wand hängt und der am 28. November 100 Jahre alt geworden wäre: Heinz Galinski. Der langjährige Berliner Gemeindevorsitzende und ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden prägte das Bild der Gemeinde über 40 Jahre.
Seit 1989 ehrt die Heinz-Galinski-Stiftung Menschen, die sich für die deutsch-jüdische Verständigung engagieren. Das entschiedene Eintreten Angela Merkels für Israel und ihre Verdienste um die Verständigung zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der Gesellschaft haben die CDU-Politikerin für diesen Preis prädestiniert.
RESPEKT Doch vor der Übergabe der mit 5000 Euro dotierten Auszeichnung gibt es anerkennende Worte vom Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde, Gideon Joffe: »Von Bundeskanzlerin Angela Merkel fühlt sich die jüdische Gemeinschaft in Deutschland akzeptiert, verstanden und geschützt. Was die Kanzlerin mit Heinz Galinski eint, sind ihre Authentizität und ihr Mut, auch unbequeme Wahrheiten zu äußern.«
Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach lobt Merkel in ihrer Laudatio als eine Frau, an die »hohe Erwartungen« gestellt würden. Merkel solle eine Führungskraft und bescheiden zugleich sein. Wie sich die Bundeskanzlerin diesen Herausforderungen stelle, das bewundere Limbach. Großen Respekt zollt sie der Kanzlerin auch für ihren Umgang mit den Angehörigen der NSU-Opfer, denen gegenüber sie die »richtigen Worte« gefunden habe.
Ansporn Sichtlich gerührt und auch »ein wenig verunsichert« von der Laudatio Limbachs, wie Merkel zugibt, nimmt sie die Auszeichnung entgegen. Der Preis sei eine »große Ehre, Verpflichtung und Ansporn« zugleich. Dass sie am 100. Geburtstag von Heinz Galinski geehrt werde, sei für sie etwas Besonderes: »Einen Preis in Empfang nehmen zu dürfen, der nach Heinz Galinski benannt ist, bedeutet, wahrscheinlich wie jedem der Preisträger vor mir, auch mir persönlich sehr, sehr viel.«
Das, wofür sich Galinski Zeit seines Lebens eingesetzt habe, sei heute mit lebendigen jüdischen Gemeinden, Schulen, Synagogen und jüdischen Museen erreicht, betont Merkel. Aber dies sei nicht die »ganze Lebenswirklichkeit«. Dazu »gehört auch, dass antisemitische und fremdenfeindliche Ansichten in manchen Teilen unserer Bevölkerung unverändert auf Zustimmung stoßen.« Antisemitismus aber, sagt Merkel deutlich, »ist eine Schande für unser Land«.
Die Beschneidungsdebatte des vergangenen halben Jahres habe bei ihr viele Fragen aufgeworfen: Wie könne es gelingen, »Toleranz von Riten zu schaffen, die der Mehrheit unserer Gesellschaft völlig fremd, für die betroffenen Minderheiten aber essenziell und völlig unumstritten sind?« Sie hoffe, dass die Lesung für das Gesetz zur Beschneidung bis Mitte Dezember abgeschlossen sei. Merkel nutzt ihre Dankesworte, um vor dem Hintergrund des jüngsten Konflikts im Nahen Osten noch einmal zu betonen, dass die Sicherheit Israels nicht verhandelbar sei. »Israel hat wie jeder andere Staat das Recht und die Pflicht zur Selbstverteidigung.«
STEP BY STEP Das Preisgeld spendet die Bundeskanzlerin dem arabisch-jüdischen Musical-Projekt »Step by Step – Sauwa Sauwa« aus Israel, bei dem Jugendliche sich auf künstlerischer Ebene begegnen. Die »nette Analogie« zur derzeitigen Krise, die man auch nur Schritt für Schritt bewältigen könne, habe sie aber nicht zu dieser Wahl inspiriert, scherzt Merkel, und verlässt unter Applaus und »Bravo«-Rufen den Saal.