Nicht weniger als 150 orthodoxe Rabbiner standen sich am Dienstagmorgen im Jüdischen Bildungszentrum von Chabad Lubawitsch in gegnerischen Posen gegenüber. Die eine Reihe als Angreifer mit einem Messer in der Hand, die andere in Abwehrhaltung. Angeleitet wurde der Selbstverteidigungskurs von dem Israeli Lior Inbar, der aus Anlass einer Tagung des Rabbinical Center of Europe (RCE) in die deutsche Hauptstadt gekommen war.
Das RCE ist nach eigenen Angaben die Vertretung von 700 orthodoxen Rabbinern in Europa, sie hat ihren Sitz in Brüssel und ist erstmals mit einer Veranstaltung in Deutschland zu Gast.
Die Konferenzteilnehmer waren aus vielen europäischen Ländern und aus Israel angereist, um sich unter dem Motto »Einheit der Welt« drei Tage lang zu Themen wie »koschere Produkte« und »Integration der neuesten Technologien in die rabbinische Welt«, vor allem aber über »Bildung und Erziehung unserer Kinder im heutigen Europa« auszutauschen.
kurs Irgendwie gehörte auch der Selbstverteidigungskurs zu diesem Themenkreis, und der 44-Jährige erklärt das durch sein Konzept: »Es beinhaltet die Arbeit an sich selbst, um ein besserer Mensch zu werden.« Man müsse lernen, Liebe zu geben, indem man seine Gedanken und sein Tun bewusst kontrolliere.
»Hier auf der Konferenz zeige ich durch einige Übungen auf, wie man das erreichen kann – das war der erste Teil. Der zweite Teil war der Selbstverteidigungskurs, und im dritten Teil spreche ich über positives Denken und wie man realistische Ziele erreichen kann.«
Während der junge Rabbiner solch eine positive Vision verkündet, malt sein Kollege Rabbi Imanuel Ravad ein eher düsteres Bild von der Zukunft. Vor 87 Jahren in Hebron geboren, sieht Rabbi Ravad heute das Judentum als ein »sinkendes Boot«, welches weltweit durch die drastische Zunahme an gemischten Ehen »in Seenot« geraten sei. Damit sprach er ein Thema an, welches – wenngleich nicht in dieser bildhaften Dramatik – tatsächlich auf dieser Konferenz eine Rolle spielte.
erziehung Gastgeber Rabbiner Yehuda Teichtal erklärte es zu »einem Ziel der Bildungsanstrengungen, dass unsere Jugend ihre jüdische Identität stärkt und sich nicht assimiliert«.
Auch Rabbi Elie Hayoun aus dem elsässischen Mühlheim macht sich Sorgen in diese Richtung und suchte auf diesem Kongress nach Antworten, »wie man die zunehmende Assimilation bekämpfen und die Generation unserer Kinder zurück in die jüdische Gemeinschaft bringen« könne.
Die Situation der Juden mag nicht jeder als so existenzbedrohend empfinden wie Rabbi Ravad. Vor allem befinden sich unter den anwesenden jüngeren Rabbinern auch Beispiele einer gelungenen jüdischen Identitätssuche.
Rabbiner Daniel van Praag etwa, der sein geistliches Amt im holländischen Amstelveen am Sinai-Center, der einzigen jüdischen psychiatrischen Klinik in Europa, versieht, hatte keine religiöse Erziehung genossen. »Als Kind hörte ich vom Judentum immer nur im Zusammenhang mit dem Krieg«, sagt der 44-Jährige. Mit 17 Jahren habe er jedoch entdeckt, dass Judentum sehr viel mehr ist. »Es ist wundervoll und reich und ein Ausdruck für die ganze Welt. Wir sollten uns also nicht nur als Opfer verstehen.«
erinnern Genau das aber war der nächste Programmpunkt: der Besuch am Gleis 17, jenem Ort also, von wo aus die Berliner Juden ab 1941 in die Vernichtungslager deportiert wurden. Da stand dann der junge israelische Rabbi Naftali Felman, Enkel von polnischen Schoa-Überlebenden, neben seinem deutlich älteren Kollegen Avraham Nazan aus Mailand und anderen Rabbinern, und gemeinsam sprachen sie das Kaddisch.
Danach machte sich die Gruppe auf den Weg zum Brandenburger Tor. Natürlich erregen traditionell gekleidete Rabbiner, die »Am Israel Chai!« singen und dazu tanzen, Aufsehen unter den Touristen – insbesondere vor Berlins Wahrzeichen, dort, wo einst SA-Formationen in einem Fackelzug marschierten.
Rabbi Inbar brachte die Stimmung auf den Punkt: »Die jüdische Art der Rache ist nicht die mit Blut im Auge. Das hier ist unsere Art der Rache. Der Umstand, dass wir noch immer hier sind und der Welt das Licht bringen!«
gespräche Am Nachmittag des zweiten Konferenztages wurde Norbert Lammert im Bildungszentrum erwartet. Er betonte »die besondere Verantwortung Deutschlands gegenüber einer der größten jüdischen Populationen in Europa«. Juden würden hier »sicherer leben als in fast jedem anderen Land«, sagte der Bundestagspräsident und verwies auf starken Antisemitismus etwa in Russland.
Einer der anwesenden Rabbiner fragte nach Angriffen auch hierzulande auf Menschen, die öffentlich jüdische Symbole tragen. Das, so Lammert, treffe bedauerlicherweise auf sämtliche Minderheiten zu. Jedenfalls würde er nicht sagen, dass »jüdische Menschen mehr als andere davon betroffen« seien.
Am Abend kamen die Rabbiner bei einem Gala-Dinner mit Botschaftern mehrerer europäischer Länder, dem Bundestagsabgeordneten Volker Beck, Berlins Finanz-
senator Matthias Kollatz-Ahnen sowie dem Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe, ins Gespräch.
überblick Israels Botschafter Yakov Hadas-Handelsman erinnerte dabei an die besondere deutsch-jüdische Geschichte und merkte an, dass sich niemand nach dem Horror der Schoa hätte vorstellen können, dass es einmal so enge Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik geben würde. Und dass wieder einmal eine derart große rabbinische Versammlung in Berlin zusammenkommen würde, auch das hätte sich wohl niemand träumen lassen.
Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, Abraham Lehrer, gab den Gästen einen Überblick über die aktuelle Situation der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. Die Rabbinerkonferenz und der von ihr ausgehende jüdische Geist werde dem weiteren Aufbau der Gemeinden und des jüdischen Lebens in Deutschland einen besonderen Impuls verleihen.
»Die meisten unserer Gemeindemitglieder sehen ihre Zukunft in Deutschland«, machte er deutlich. Juden würden in diesem Land weiterhin Teil des öffentlichen Lebens sein und klar und deutlich ihre Positionen beziehen. Lehrer sprach auch von der aktuelle Flüchtlingsdebatte, in der man, dem religiösen und moralischen Grundverständnis folgend, aktive Hilfe anbiete, zugleich aber die Besorgnis über einen importierten Antisemitismus deutlich mache.
auszeichnung Ehrengast des Abends war der Berliner SPD-Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, dem im Rahmen des Dinners der Toleranzpreis verliehen wurde. In der Vergangenheit hatte der Politiker mit arabisch-palästinensischen Wurzeln sich mehrfach für die jüdisch-muslimische Verständigung eingesetzt. Auch das vermittelte eine Zuversicht, mit der die 150 Rabbiner am Mittwoch die Beratungen fortsetzten.