Porträt der Woche

Austausch mit Gleichen

»Als Kind war ich zurückhaltend, inzwischen bin ich viel selbstbewusster«: Maria Schubert (46) aus Magdeburg Foto: Harald Krieg

Porträt der Woche

Austausch mit Gleichen

Maria Schubert ist Gemeindesekretärin in Magdeburg und tanzt gern

von Alicia Rust  18.04.2025 14:24 Uhr

Wenn ich an meine Geburtsstadt Riga denke, kommt mir als Erstes der Blick aus dem Fenster unserer damaligen Wohnung in den Sinn: Wir konnten direkt auf die Wissenschaftsakademie schauen, damals – ich wurde 1978 zu So­w­jetzeiten geboren – war Riga noch nicht die schillernde Stadt, die sie heute ist. Die wirtschaftliche Lage war desolat. Viele jüdische Familien sind nach dem Fall des Eisernen Vorhangs emigriert.

Ursprünglich wollten meine Eltern mit mir nach Israel auswandern, wo viele unserer Freunde und Verwandten heute leben, doch mein Vater hatte Freunde in Deutschland, da sind wir dann gelandet. Rückblickend eine gute Entscheidung. Nur meine Großmutter ist in Riga geblieben, sie liebte ihren Garten und wollte ihr dortiges Leben nicht aufgeben. Unser Leben war bis zu meinem zwölften Lebensjahr anders als hierzulande. Wir wohnten in einer großen Wohnung im Verbund mit drei anderen Familien. Wir mussten uns die Küche und die Toilette teilen. Unsere Mitbewohner bildeten einen Querschnitt der Gesellschaft ab, nie gab es einen Moment der Stille, der Privatsphäre. Heute weiß ich, wie wichtig es ist, einen Ort des Rückzugs für sich zu haben.

Wir waren wenige Juden dort. Ich bin nicht religiös erzogen worden, aber natürlich wusste ich um unsere Herkunft. Meine Mutter ging gelegentlich in die Synagoge, aber die jüdische Kultur und die religiösen Bräuche waren durch die Zeit der Sowjetunion verschüttet. Meine Oma Violetta, inzwischen 89 Jahre alt, hat erst vor Kurzem Kontakt zur jüdischen Gemeinde von Riga aufgenommen.

Ich war zwölf Jahre alt, als wir mit dem Flugzeug nach Deutschland kamen

Meine Familie mütterlicherseits war jüdisch. Mein Urgroßvater Mischa kam 1946 aus Weißrussland nach Riga, nachdem er in Leningrad gekämpft hatte, in der Kälte waren ihm die Zehen abgefroren. Meine Großmutter wurde in Karelien geboren, heute geteilt in Russland und Finnland gelegen. Nach dem Krieg durften sich meine Großeltern in Riga ein Domizil aussuchen. Sie haben die Wohnung gewählt, in der meine Familie über drei Generationen lebte, in der auch ich geboren wurde.
Ich war zwölf Jahre alt, als wir mit dem Flugzeug nach Deutschland kamen. Zunächst ging es ins Industrieviertel von Magdeburg. Damals erschien uns dort alles schwarz und hässlich. Meine Mutter hat erst einmal geheult. Meine Eltern waren ursprünglich beide Ingenieure. 1991 herrschte im Osten Deutschlands eine hohe Arbeitslosigkeit, und ihre Berufsabschlüsse wurden nicht anerkannt.

Zunächst zogen wir in ein kleines Kaff: Barby, wo wir in einem Wohnheim lebten. Weiter ging es nach Calbe an der Saale, die Schulzeit dort habe ich nicht in schöner Erinnerung, damals gab es noch keine Ausländer, entsprechend fremd fühlte ich mich. Deutsch musste ich erst lernen.

Mein Rezept für innere Zufriedenheit? Freunde und Menschen, die einem gut bekommen.

Mein Vater arbeitete beim Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt, er ist noch immer dort. Meine Mutter hat verschiedene Tätigkeiten ausprobiert, so war sie eine Weile Leiterin der Repräsentanten-Versammlung in der Synagogen-Gemeinde.

Als ich 20 war, haben sich meine Eltern getrennt. Mutter hat erneut geheiratet und ist nach Hannover gegangen. 1992 sind wir nach Magdeburg gezogen, in unsere erste eigene Wohnung. Ich wurde in eine Realschule eingeschult und machte meine Mittlere Reife. Mein Abitur habe ich dann an einer Gesamtschule bestanden.

Als wir nach Magdeburg kamen, wurden wir Mitglieder der Synagogengemeinde, das hat uns aufgefangen. Beide Elternteile waren dort privat wie beruflich engagiert. Es gab viele Freundschaften, vor allem unter den Zugewanderten. In der Schule wie in der Nachbarschaft wusste jeder, dass ich jüdisch war, doch das hat damals niemanden interessiert, wir waren einfach »die Russen«. Heute ist es eher ein Bonus, dass ich aus Riga stamme.

Ich spreche gern vor Schulkassen, vor Ministerialmitarbeitern, Polizeivertretern

Als Kind war ich zurückhaltend, inzwischen bin ich viel selbstbewusster. Dass ich einmal Führungen durch die Synagoge machen und vor bis zu 80 Leuten frei reden würde, wäre bis vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Ich spreche gern vor Schulkassen, vor Ministerialmitarbeitern, Polizeivertretern, vor Vereinen jedweder Art.

Unsere Synagoge wurde erst vor einem Jahr eröffnet. Auch die beiden christlichen Kirchen haben, neben vielen Initiativen und Privatpersonen, großzügig gespendet. 1851 wurde die alte Synagoge erbaut, die in der Pogromnacht zerstört wurde. Damals war Platz für 2000 Menschen, heute passen 120 in die neue Synagoge. Mir ist wichtig, dass alle, die zu uns kommen, anschließend mit einem guten Gefühl und mit neuen Erkenntnissen nach Hause gehen. Dass die Vorurteile und Berührungsängste endlich abgebaut werden.

Wie ich zu meiner Tätigkeit gekommen bin? Nach dem Abitur habe ich zunächst in Braunschweig Biologie studiert, doch das war nichts für mich. Also wechselte ich an die Fachhochschule und machte meinen Abschluss als Übersetzerin und Dolmetscherin für Gesundheitswesen und Gericht. Zu diesem Zeitpunkt wurde in unserer jüdischen Gemeinde eine Sekretärin gesucht, daraufhin habe ich mich beworben. Hier kann ich alle meine Fähigkeiten einbringen, die russische Sprache und mein Organisationstalent.

Was mir Kraft dazu gibt, ist meine jüdische Tanzgruppe

Im Rahmen meiner Arbeit betreue ich auch junge Familien und Kinder, das macht mir besonders viel Spaß. Irgendwann habe ich geheiratet und ein Kind bekommen. Nach 18 Jahren haben wir uns getrennt, nach 20 Jahren war ich geschieden. Jetzt ist mein Sohn zwölf Jahre alt. Ich habe viele Baustellen in meinem Leben, aber sie sind mir alle bewusst, und ich arbeite daran. Wenn etwas passiert, bemühe ich mich zu reflektieren. Dann schaue ich mir an, was ist da eigentlich los, was triggert mich und warum? Für jede alleinstehende Mutter ist so eine Situation eine Herausforderung. Man macht sich seine Gedanken, ob und wie man das alles packt.

Was mir Kraft dazu gibt, ist meine jüdische Tanzgruppe, in der ich seit einem Jahr tanze. Wir haben einen israelischen Lehrer. Wenn alle kommen, sind wir ein Dutzend Tänzerinnen, auch Nicht­juden machen bei uns mit.

Darüber hinaus habe ich Freude, neue Dinge auszuprobieren. Kürzlich habe ich einen Goldschmiedekurs gemacht. Dabei habe ich silberne und goldene Ringe in der Hammerschlag-Technik geschmiedet. Früher war ich aktiv in der Hundeschule, ich habe einen Labradoodle. Er heißt Puschkin und ist der wichtigste Mitarbeiter in unserem Büro, alle lieben ihn. Er ist eine Art Therapiehund, der allen guttut.

Reisen ist meine große Leidenschaft

Mein Sohn Samuel kommt langsam in die Pubertät, unser Verhältnis hat sich geändert. Manchmal kommt es mir vor, als ob wir beide in einer Wohngemeinschaft leben. Man muss sich bewusst machen, dass sich Kinder in diesem Alter von ihren Eltern abgrenzen, die Kuschelzeit ist vorbei. Ich bin gespannt, was als Nächstes kommt.

Ich liebe Israel, ich bin dort gern im Urlaub und fühle mich wohl, aber dort zu leben, stelle ich mir sehr schwer vor.

Reisen ist meine große Leidenschaft. Vergangenes Jahr war ich in Japan, eine wunderbare Erfahrung, eine völlig andere Welt. Es gibt dort viel Wertschätzung und Höflichkeit. Leben könnte ich da aber nicht, das fängt beim Essen an und hört beim Temperament auf. Israel finde ich auch großartig, ich liebe das Land, ich bin dort gern im Urlaub und fühle mich wohl, aber dort zu leben, stelle ich mir ebenso sehr schwer vor. Mir ist es zu laut und zu trubelig.

Wenn ich die politische Situation weltweit betrachte, frage ich mich: In welcher neuen Ära leben wir eigentlich gerade? Es ist wie in einem schlechten Film, man kann das alles gar nicht glauben! Jeden Tag kommt eine neue Hiobsbotschaft, egal, ob es sich um Nachrichten aus Russland handelt, aus den USA, Israel oder Deutschland. Die ganze Weltordnung kracht zusammen, doch in welche Richtung werden wir gehen? Der Anschlag in Magdeburg Ende vergangenen Jahres hat gezeigt, dass man sich auf nichts mehr verlassen kann.

Mein Rezept für innere Zufriedenheit? Freunde und Menschen, die einem gut tun, die die Welt mit denselben Augen betrachten, die eine Bereicherung sind. Der Austausch mit Gleichgesinnten trägt dazu bei, den Optimismus nicht ganz zu verlieren. Ich hoffe sehr, dass es eine Gegenbewegung geben wird, und dass auf den Hass und die Hysterie irgendwann wieder Einsicht und Vernunft folgen. Dass wir als Zivilgesellschaft aufwachen und zwischenzeitlich unsere menschlichen Werte nicht verlieren.

Ich bin zwar nicht religiös, doch ich denke, dass es einen gemeinsamen Werte­kanon auf der Welt gibt, der uns allen zeigt, was richtig ist und was falsch. Darauf sollten wir uns wieder besinnen.

Aufgezeichnet von Alicia Rust

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