Lina, kannst du dich kurz vorstellen?
Mein Name ist Lina und ich bin 22 Jahre alt. Ich bin in Berlin geboren und in einer Großfamilie aufgewachsen. Wir sind acht Personen zu Hause. Meine Familie kommt ursprünglich aus dem Libanon. Meine Eltern sind während des Bürgerkrieges hierher ausgewandert. Vor Kurzem habe ich noch Erziehungswissenschaft und Linguistik in Potsdam studiert, aber nach dem fünften Semester abgebrochen.
Weshalb war es dir wichtig, doch noch mal eine andere Richtung einzuschlagen?
Das Studium war mir ehrlich gesagt zu trocken. Mir hat dieser pädagogische Input gefehlt. Es war viel mehr auf Bildung und Forschung ausgerichtet. Eigentlich strebe ich den Beruf als Psychotherapeutin an und will lieber ein Psychologiestudium aufnehmen. Es ist total interessant und spannend, in die Tiefe der Seele reinzuschauen und zu wissen: »Okay, der Mensch handelt so und so, weil er das und das erlebt hat.«
Du engagierst dich nebenbei auch sozial und politisch. Warum ist dir das wichtig?
Ich bin bei Interreligious Peers und mache gerade eine Ausbildung zur Teamerin bei der KIgA. Interreligious Peers ist eine Organisation, die Workshops an Schulen anbietet und dabei Wissen über die drei Weltreligionen vermittelt, wie auch über Rassismus und Diskriminierung. Es geht darum, Vorurteile abzubauen. Mittlerweile machen wir das auch deutschlandweit, vorher gab es diese Workshops nur in Berlin. Bei der KIgA geht es darum, Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit zu bekämpfen, indem wir über Rassismus und Diskriminierung aufklären. Vor Kurzem war ich noch ehrenamtlich bei den Maltesern aktiv. Da habe ich mit geflüchteten Kindern gearbeitet.
Welche Eindrücke und Erfahrungen hast du dabei gesammelt?
Die Kinder waren traumatisiert und ich hatte das Gefühl, mit den Kindern zu basteln und ihnen zuzuhören, bringt ihnen unheimlich viel. Als Integrationslotse habe ich auch eine Weile gearbeitet und zusammen mit meiner Cousine eine irakische Familie betreut. Wir haben Amtsgänge erledigt und beim Formulieren von Briefen geholfen. Mit den Kindern haben wir Hausaufgaben gemacht und Ausflüge unternommen.
Hast du denn noch Zeit für Freizeitaktivitäten neben deinem ehrenamtlichen Engagement?
In meiner Freizeit liebe ich es, an verschiedene Orte zu reisen. Ich war auch schon in vielen Ländern unterwegs, in Österreich, der Schweiz, Türkei, Polen und in England. London ist by the way eine meiner Lieblingsstädte. London ist wirklich eine Stadt voller Kultur und Diversität. Obwohl ich Muslima bin, finde ich Großstädte während der Weihnachtszeit besonders schön. Mir gefallen die Lichter und die fröhliche Stimmung. Reisen bedeutet für mich das Entdecken neuer Kulturen, Sprachen und Länder.
Gibt es noch etwas, was dich ausmacht oder dir wichtig ist?
Abgesehen vom Reisen ist Humor sehr wichtig für mich. Es gibt ein arabisches Sprichwort, das heißt: »Humor und Geduld sind die beiden Kamele, mit denen man jede Wüste durchqueren kann.« Wenn man eine schwierige Zeit hat, ist es wichtig, noch lachen zu können. Es tut gut zu wissen, dass es noch etwas gibt, was Freude bereitet und was ablenken kann.
Spielt dein Glaube bei deinem sozialen Engagement eine Rolle?
Der Islam beeinflusst definitiv mein Engagement. Im Islam wird vermittelt, dass man Menschen helfen soll, dass man gegen Ungerechtigkeit kämpfen soll, dass man immer herzlich und friedlich sein soll. Egal wie schlecht mich ein Mensch behandelt, ich soll immer noch gut zu einem Menschen sein. Ich denke, ohne meinen religiösen Hintergrund hätte ich so ein Mindset nicht. Irgendwann wird sich mein Gegenüber fragen: »Warum bleibt sie respektvoll, obwohl ich sie gerade beleidige und diskriminiere?« Und dann kann es sein, dass er durch meine Reaktion sein eigenes Verhalten hinterfragt.
Es gibt ja unter Muslimen Vorurteile gegenüber Juden. Wie würdest du diesen Vorurteilen begegnen?
Es ist tatsächlich so, dass viele Muslime aufgrund der Geschichte und Politik von Israel einen Hass gegen Juden haben. Es ist mir wichtig, den Menschen auch zu erklären, dass Judentum das eine und Israels Politik das andere ist. Dass man die Politik kritisieren kann, ohne den Staat abzulehnen. Judentum hat genau die gleichen Werte wie der Islam: Immer höflich, nett und respektvoll bleiben. Bei der KIgA und anderen Organisationen gibt es dazu Angebote. Es geht darum, aufzuklären und zu hinterfragen, warum »Jude« als Schimpfwort verwendet wird und dass das extrem rassistisch und diskriminierend ist.
Was ist deine Motivation, dich bei Begegnungsprojekten einzusetzen?
Meine Motivation ist Menschlichkeit. Ich habe Rassismus und Ablehnung selbst erlebt und bin schon relativ früh damit aufgewachsen. Menschen behandeln mich anders, weil ich einen anderen Glauben oder eine andere Herkunft habe. Schon immer war es für mich extrem wichtig, meine Stimme gegen das Unrecht einzusetzen. Meine Stimme ist keine kleine Stimme. Ich weiß, ich kann damit viel bewirken. Auch wenn es hart und ermüdend ist. Aber zu sehen, dass ich etwas bewirken kann, das erfüllt mich. Ja, das ist für mich die Motivation. Den Menschen zu zeigen: »Okay, ich bin nicht so, wie du denkst. Das Bild, was die Medien dir zeigen, ist nicht das richtige.« Jeder Mensch hat den gleichen Respekt verdient. Im Endeffekt besteht jeder Mensch aus Fleisch und Blut und will ein friedliches Leben haben.
Wie kann der jüdisch-muslimische Dialog gefördert werden?
Durch den Austausch mit anderen sammele ich Wissen über andere Religionen und kann meine Denkmuster überarbeiten. Es ist mir extrem aufgefallen, dass dieser interreligiöse Dialog viel zu wenig präsent ist. Dabei gibt es richtig viele Organisationen, die sich damit beschäftigen. Ich finde, es sollte noch viel mehr gefördert werden, gerade indem man auch an Schulen geht, diese Projekte vorstellt und Workshops anbietet. Man sollte die Menschen dazu einladen, diesen interreligiösen Dialog zu führen. Gerade in den Schulen finden wir junge Menschen, die die Zukunft der Gesellschaft prägen werden. Je früher man anfängt, mit ihnen offen zu reden, desto besser. Menschen habe Vorurteile, weil es ihnen so von klein auf eingetrichtert wurde. Oft liegt das auch in der Familie selbst. Die Eltern sagen, hänge nicht mit dem und dem ab, der ist so und so. Durch die Workshops an Schulen habe ich bemerkt, dass ich etwas bewirken kann und dass Interesse für den Dialog da ist.
Wie würdest du dich selbst beschreiben? Fühlst du dich als Deutsche?
Ehrlich gesagt stehe ich immer noch in einem Zwiespalt. Dieser Struggle zwischen, ich bin deutsch, aber gleichzeitig ist ein Teil von mir auch libanesisch. Ich weiß, wenn ich außerhalb Berlin-Kreuzbergs unterwegs bin, bin ich keine Deutsche mehr. Ich bin, jedenfalls gefühlt, eine Fremde. Diese Erfahrungen lassen mich meine deutsche Identität hinterfragen: »Okay, ich bin doch nicht so willkommen hier. Ich werde doch nicht so akzeptiert, wie ich dachte.« Sobald ich aber im Libanon bin, sehe ich mich als Deutsche. Das ist richtig anstrengend manchmal. Irgendwie versuche ich, trotzdem beides in mir zu vereinen, auch wenn es manchmal extrem schwierig ist. Aber ich weiß, dass ein Teil von mir deutsch ist und ein Teil arabisch. Ich würde mich, glaube ich, im Leben nie für eine Zugehörigkeit entscheiden. Ich denke mir, warum kann man das nicht vereinen. Ich bin auch stolz darauf, weil man den Menschen zeigen kann: »Ich fühle mich nicht nur einer Gruppe zugehörig, ich kann beides sein.«
Warum bist du im Libanon die Deutsche? Was ändert sich da?
Dadurch, dass ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, habe ich eine etwas andere Mentalität als die Menschen im Libanon. Ich fühle mich nicht zu hundert Prozent Libanesin, sondern spüre auch meinen deutschen Teil. Ich würde diesen deutschen Anteil in mir niemals wegschmeißen. Deutschland ist meine Heimat, aber auch der Libanon ist meine Heimat. Ich bin ja hundert Prozent libanesisch erzogen worden. Meine beiden Eltern sind aus dem Libanon und diese Kultur ist für mich Heimat, gerade, was Essenskultur und Gastfreundschaft angeht. Es ist aber diese Organisation und Struktur in Deutschland, die ich schätze. Im Libanon ist es, ehrlich gesagt, völlig durcheinander und vieles verläuft spontan. Diese Spontanität habe ich zum Teil auch, aber ich mag dieses Organisierte an Deutschland. Alles ist kontrolliert und ordentlich.
Wo siehst du dich in zehn Jahren?
In zehn Jahren, wenn mein Psychologiestudium abgeschlossen ist, werde ich hoffentlich den Beruf der Psychotherapeutin ausüben. Wenn es finanziell klappt, dann eröffne ich eine Praxis. Das ist wirklich mein größter Wunsch, so eine Praxis mit einem kleinen Café. Meine Patienten könnten sich dort auch Kaffee und Kuchen nehmen, als wenn man mit Freunden quatschen würde. Verheiratet, vielleicht auch zwei, drei Kinder und auf jeden Fall eine viel bessere Zukunft für die Gesellschaft. Dann sollten antimuslimischer Rassismus und andere Rassismen kein großes Thema mehr sein. Eine Welt, wo Juden, Christen, Muslime, Atheisten und andere friedlich nebeneinander leben können, ohne sich auf der Straße fürchten zu müssen und ohne irgendwelche Kommentare und Blicke – so eine Gesellschaft wünsche ich mir.
Das Interview ist eine Leseprobe aus dem Buch »Gehört werden – jüdische und muslimische junge Erwachsene im Gespräch« (Hentrich & Hentrich Verlag, ISBN 978-3-95565-423-8).
Das Buch erscheint im Rahmen des jüdisch-muslimischen Dialogprojekts »Schalom Aleikum« und ist die dritte Veröffentlichung aus dieser Gesprächsreihe.
»Schalom Aleikum« ist ein Projekt des Zentralrats der Juden in Deutschland, gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration, Staatsministerin Annette Widmann-Mauz.