»Nur an Jom Kippur ist es so voll wie heute«, begrüßt Ernst Sittig die Gäste witzelnd. Etwa 60 Interessierte kann der zweite Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Oldenburg in der Synagoge an der Leo-Trepp-Straße willkommen heißen. Eingeladen hat der Arbeitskreis Religionen des Präventionsrates Oldenburg, in dem Sittig als Repräsentant der jüdischen Gemeinde mitarbeitet.
Das Thema der interreligiösen Abendveranstaltung: der Umgang mit dem Tod und Jenseitsvorstellungen im Judentum und im Christentum. Die christliche Seite wird durch Ulrike Hoffmann, Kreispfarrerin der evangelisch-lutherischen Kirche Oldenburg, sowie durch Werner Bieberstein, Pastoralreferent und Seelsorger bei der katholischen Gemeinde St. Willehad, vertreten. Für die jüdische Gemeinde Oldenburg spricht Ernst Sittig, der außerdem zweiter Vorsitzender der Oldenburger Gesellschaft für Christliche-Jüdische Zusammenarbeit ist.
Begegnung Die Reihe »Aus und vorbei? Das Leben nach dem Tod aus Sicht der Religionen« soll zu Austausch und Begegnung anregen sowie dazu einladen, Neues kennenzulernen, Bekanntes wiederzuentdecken und Fragen zu stellen. Neben einer Führung auf dem Friedhof Bümmerstede, der seit dem Jahr 2000 auch den Neuen Jüdischen Friedhof umfasst, werden noch bis Ende September mehrere abendliche Vortragsveranstaltungen angeboten.
Weitere Vorträge befassen sich mit Riten anderer Religionen wie Bahai.
Vorgestellt werden dabei nicht nur Riten und Bräuche aus dem Judentum und Christentum, sondern auch des Islam durch die Maryam-Moschee, der Bahai-Religion, des Buddhismus, der Christlich Essenischen Kirche sowie des Jesidentums. Nicht zuletzt versucht ein philosophischer Vortrag, unterschiedliche religiöse Einstellungen zum Tod zusammenzutragen. So soll gezeigt werden, dass die Frage, ob mit dem Tod alles »aus und vorbei« ist, Anhängerinnen und Anhänger verschiedener Glaubensvorstellungen als Menschen verbindet.
crashkurs Ernst Sittig gibt den mehrheitlich nichtjüdischen, teils jugendlichen Zuhörern an diesem Abend im Gemeindezentrum zunächst einen Crashkurs zu Grundlagen und zentralen ethischen Richtlinien des Judentums, zur Geschichte der Juden in Oldenburg und der dortigen Gemeinde. Sie wurde 1992 gegründet und hat aktuell etwa 250 Mitglieder.
Während seines Vortrags und auch in der anschließenden Fragerunde hebt Sittig immer wieder hervor, wie sehr sich die individuellen Vorstellungen und Riten unter Jüdinnen und Juden bereits untereinander unterscheiden. »Zwei Juden, drei Meinungen«, zitierte er ein klassisches Bonmot.
Entsprechend – und verständlicherweise – schwierig ist es deshalb, auf generalisierende Fragen aus dem Publikum à la: »Was denkt das Judentum denn eigentlich über ...?« zu antworten. Dass es im jüdischen Glauben durchaus unterschiedliche Lehrmeinungen über das Jenseits, von einer Unsterblichkeit der menschlichen Seele sowie einer Auferstehung oder Wiederbelebung der Toten gibt, scheint einige der Zuhörenden durchaus zu erstaunen.
Themen waren auch die Chewra Kadischa und der Brauch der Keria.
Aus diesem Grund sind Sittigs regelmäßige, mitunter ironische Verweise auf die Diversität innerhalb des Judentums wichtig – ebenso wie die Betonung, dass die religiöse Praxis eine Privatangelegenheit ist, bei der jeder einzelne Jude eine individuell optimale Ausprägung finden soll.
Blumen Auf die Entgegnung einer Zuhörerin, dass sie in Israel auf jüdischen Friedhöfen durchaus Blumenbepflanzung gesehen hatte, entgegnet er trocken: »Nun ja, die Israelis sind ja schließlich Meister in der Bewässerungstechnik.«
Dass bestimmte Trauerrituale nach dem Tod naher Verwandter seit talmudischer Zeit zwar üblich sind, aber auch nach Zeit und Ort mitunter variieren, macht Sittig im zweiten Teil seines Vortrags deutlich. Darin stellt er Einrichtungen wie die Chewra Kadischa (Beerdigungsbruderschaft) vor, den Brauch der Keria (das Einreißen der Kleidung aus Trauer) sowie den traditionellen Ablauf von Bestattungen. Zudem geht Sittig detailliert auf die einzelnen Zeitabschnitte während der Trauerzeit sowie die dazugehörigen Rituale sowohl im orthodoxen als auch im liberalen Judentum ein.
Querverbindungen In der Diskussion sowie in den beiden Vorträgen zu christlichen Perspektiven werden immer wieder Querverbindungen zwischen Judentum und christlicher Religion, aber auch dem Islam gezogen. Unterschiede werden nicht nur in Bezug auf grundlegende Fragen wie die jeweiligen Jenseitsvorstellungen deutlich.
Besonders der Trauerbrauch, an Grabstätten Steine zu hinterlegen und nicht vergängliche Blumen, sowie die Ewigkeit von jüdischen Grabstätten stößt bei einigen christlichen Zuhörern auf merkliches Interesse. »Ach, so ist das ja viel schöner als bei uns«, flüstert eine Frau ihrer Nachbarin zu.