Ihr Herz, sagt Ruth Hofmann, sei für immer in Israel geblieben. 14 Jahre hat sie dort gelebt, das ist, verglichen mit ihrem langen Leben, eigentlich eine kurze Zeitspanne. Aber es waren wohl die entscheidenden, die prägenden Jahre, die sie zu dem Menschen gemacht haben, der sie bis heute ist. Am kommenden Samstag wird Ruth Hofmann ihren 95. Geburtstag feiern. Ihre Kinder wollen für sie ein großes Fest mit 80 Gästen in einem Hotel ausrichten. Sie aber denkt auch an diesem Tag nicht an sich, sondern vor allem an andere: »Ich möchte keine Geschenke, sondern wünsche mir Spenden für das ›Wingate Institute for Physical Education & Sports‹ in Netanja«, sagt sie. Mit dem Geld soll ein Programm zur Resozialisierung straffällig gewordener Jugendlicher unterstützt werden.
Geboren wurde Ruth Hofmann 1921 im Städtchen Preußisch-Holland in Ostpreußen. Damals hieß sie noch Ruth Laserstein. Ihre Eltern besaßen am Marktplatz, direkt gegenüber dem Rathaus, ein Kaufhaus, in dem es Kurzwaren, Berufskleidung, Wäsche und eine Abteilung für Brautausstattung gab. »Das Geschäft lief wunderbar«, erinnert sich Ruth Hofmann, »vor allem an den Markttagen strömten die Leute herbei.« Doch dann kam Hitler an die Macht, und der privilegierte Standort verwandelte sich plötzlich in einen Nachteil: »Die Kunden trauten sich nicht mehr hinein, wollten nicht gesehen werden, wenn sie in einem jüdischen Geschäft einkauften.«
Berlin Auch in der Schule änderten sich die Verhältnisse: Ruth besuchte damals die katholische Realschule Sankt Georg, benannt nach dem Stadtheiligen von Preußisch-Holland. Sie war eine sehr gute Schülerin. Doch nun nötigte man sie zu gehen. »Ruth verlässt die Schule auf eigenen Wunsch«, schrieb der Direktor ins Abgangszeugnis – eine glatte Lüge, und ihre hervorragenden Noten senkte er außerdem deutlich herab.
Eine Tante lebte in Berlin. »Clara war eine glühende Zionistin und hat sofort dafür gesorgt, dass ich auf die Liste der Kinder- und Jugend-Aliyah komme«, erzählt Hofmann. 1937 schickte man Ruth in ein Vorbereitungslager auf einem Bauernhof in Schlesien. Sechs Wochen lang wurden dort 50 Jungen und 50 Mädchen von den Betreuern beobachtet, ohne dass die Jugendlichen das bemerkten. Auf diese Weise wollte man herausfinden, wer sich besonders sozial verhielt und fleißig in der Landwirtschaft mithalf.
»Am Ende wurden elf Jungen und drei Mädchen ausgewählt. Ich war eines von ihnen, und auch Elias, mein späterer Mann, gehörte dazu«, erzählt Ruth Hofmann. Kurz nach ihrem 16. Geburtstag brach sie nach Palästina auf. »Immer montags fuhren die Züge vom Anhalter Bahnhof in Berlin in Richtung Triest los. Am Gleis hatte man ein rotes Band gespannt, um die Mütter, die sich von ihren Kindern nicht loslösen konnten und sie voller Schmerz und Verzweiflung in ihren Armen hielten, fernzuhalten.« Schließlich ahnten viele, dass dies möglicherweise ein Abschied für immer war.
Auch Ruth Hofmann hat ihre Eltern nie wiedergesehen, genauso wie ihre anderthalb Jahre jüngere Schwester Gerda. Die Eltern wurden nach Riga deportiert und dort erschossen. Ihre Schwester versuchte mit anderen, über Serbien vor den Nazis zu fliehen, doch die Gruppe wurde von Wehrmachtssoldaten entdeckt und ermordet. Bis heute plagen Ruth Hofmann Schuldgefühle, wird sie den Gedanken nicht los, ihre Angehörigen im Stich gelassen zu haben.
In Israel hatte sie das Glück, zunächst in Degania unterzukommen, dem ältesten Kibbuz, der bereits 1910 von einer Gruppe zionistischer Einwanderer aus Weißrussland gegründet worden war. »Wir haben sehr schwer arbeiten müssen, aber ich habe das Leben im Kibbuz geliebt«, erzählt sie. Auch hier war ihr späterer Mann dabei. »Nachts sollten wir wegen der großen Hitze im Freien schlafen. Also habe ich mir draußen ein Bett aufgebaut; als ich mich später dort schlafen legen wollte, befand sich plötzlich daneben eine zweite Bettstatt. Sie gehörte Elias.«
1942 haben die beiden geheiratet und Degania verlassen. Zunächst hieß es, sie sollten nach Zichron Yaakov gehen, um einen neuen Kibbuz aufzubauen. Doch bald schon zog das Paar nach Haifa: Elias arbeitete in einem Steinbruch, Ruth in einer Wäscherei. In dem Zimmer, das sie als Untermieter bezogen hatten, stand nur ein Bett, und das war voller Wanzen.
Trennung Elias’ Familie hatte überlebt, 1950 brach er nach Deutschland auf, um seine todkranke Mutter zu besuchen. Er blieb, und Ruth blieb in Israel, absolvierte freiwillig ihren Militärdienst in einem Krankenhaus. Dort erwies sie sich als so engagiert, dass man ihr anbot, sich mit Hilfe eines Stipendiums zur Ärztin oder Krankenschwester ausbilden zu lassen – für sie, die keinen Schulabschluss hatte machen können, die Erfüllung eines Traums. »Aber ich muss das mit Elias klären«, dachte sie damals, reiste ebenfalls nach Leipzig – und blieb.
»Zwei Jahre lang habe ich nur geweint«, erinnert sie sich. In jedem Passanten auf der Straße meinte sie, den Mörder ihrer Angehörigen zu sehen. Doch dann wurden ihre Kinder Hanni und Ralph geboren. Ihr Mann, der aus einer Pelzhändlerfamilie stammte, gründete in Frankfurt am Main zusammen mit seinem Vater ein neues Pelzgeschäft, in dem mittlerweile schon Enkelsohn Yves arbeitet.
Und Ruth Hofmann engagierte sich ehrenamtlich: 20 Jahre lang war sie bei der Krankenbetreuung (Bikur Cholim) der Gemeinde aktiv, außerdem gründete sie die Organisation der »Frankfurter Gesellschaft der Freunde und Förderer der Krebsbekämpfung in Israel«, deren Vorsitzende sie zwölf Jahre lang war und für die sie viele Spenden einwerben konnte. »Und ich war die erste Vizepräsidentin, die es jemals in der Geschichte der B’nai-B’rith-Loge gegeben hat«, fügt sie nicht ohne einen kleinen Anflug von Stolz hinzu. Amtierender Präsident der Loge in Frankfurt ist übrigens seit vielen Jahren ihr Sohn Ralph.