Nach dem Wahlmarathon vor zwölf Monaten befindet sich die Union der progressiven Juden Deutschlands bei ihrer Jahrestagung 2012 in der Konsolidierungsphase. Im mittlerweile 16. Jahr ihres Bestehens sei man den Kinderschuhen zwar entwachsen, sähe sich aber allenfalls in der Phase junger Erwachsener, »noch nicht ganz irrtumsfrei, aber auch noch nicht festgefahren«, verortet sie Sonja Guentner, Vorsitzende der Union.
Wie seit Jahren bewährt, verbrachten rund 200 Mitglieder liberaler Gemeinden ein langes Wochenende in Spandau, um miteinander zu diskutieren, zu lernen und neue Arbeitsschwerpunkte zu setzen. Das Angebot an Workshops war entsprechend von Avraham Avinu bis Wirtschaftsethik weit gefächert. Rabbiner, Gemeindevorsitzende und Sozialarbeiter sprachen religiöse wie organisatorische Fragen an.
»Neonazis und Jüdische Gemeinden« machte beispielsweise Wolfgang Seibert von der Jüdischen Gemeinde Pinneberg zum Thema. Jaroslav Maljar, ein junger Student aus Nettetal erzählte, er habe in seinem Job Erfahrungen mit antisemitischen Schmähungen gemacht. Sein Chef habe sich abfällig über Juden und Israel geäußert, ohne zu wissen, dass sein Mitarbeiter Jude sei. Irgendwann sei es ihm zu viel geworden, so Maljar, und er habe mit seinem Chef gesprochen. Er sei für einen offensiven Umgang mit der Kritik an Israel.
tendenzen Johannes Aaron Seidler aus Hannover warnte vor dem als Israelkritik verbrämten Antisemitismus. Solche Tendenzen zu erkennen, bedürfe es Schulungen auch in den jüdischen Gemeinden selbst. Man müsse Strukturen von neonazistischen Störungsversuchen entlarven lernen, um ihnen begegnen zu können.
Ein sehr kleiner Kreis scharte sich um Alla Volodarska-Kelmereit, Sozialarbeiterin in Hannover. Sie beschäftigte sich mit dem schwierigen Thema »Trauma der zweiten und dritten Generation nach der Schoa und ihre Auswirkungen auf die Sozialarbeit in den Gemeinden«. Volodarska-Kelmereit berichtete von einer Familie, in der alle drei Kinder von Holocaust-Überlebenden schwerstens traumatisiert sind, sodass sie teils sogar ihren Beruf aufgeben mussten.
Das sprichwörtliche Totschweigen ihrer Erfahrungen und Überbehütung ihrer Kinder habe die Angst der Eltern auf die zweite Generation übertragen. Ähnliche Erlebnisse hatten auch die Seminarteilnehmer. »Du musst besser sein als die anderen, denn du bist Jüdin«, kompensierte beispielsweise Alina S. die Ängste ihrer Eltern.
Unterschiede Dabei seien auch die unterschiedlichen Sozialisationen »russischer« und »deutscher« Nachgeborener zu berücksichtigen. Während die russischsprachigen Zuwanderer mit dem Gefühl, einer Siegernation anzugehören, in der das ganze Volk gelitten habe – nicht nur die Juden –, aufwuchsen, werde den deutschen Juden eine Opferrolle zugeteilt.
Mit einem Problem ganz anderer Art befasste sich Rabbinerin Elisa Klapheck in ihrem Workshop über »Schulden und Zinsen in jüdischer Tradition«. An ausgesuchten Stellen aus Talmud und Tanach machte sie deutlich, wie sich schon die Weisen vor mehreren Tausend Jahren Gedanken über das Verleihen von Werten und Zinserhebung machten. Die Fragen verursachten eine lebhafte Debatte, die auch nach eingehendem Textstudium keine eindeutige Lösung zuließ.
pressearbeit Handfestere Angebote machte hingegen Heinz-Peter Katlewski in seinem Workshop zur Pressearbeit in den Gemeinden. Anhand eines vorbereiteten Papiers konnten sich die Teilnehmer orientieren, wann es sinnvoll ist, Pressekonferenzen abzuhalten, wen sie dazu einladen und wie sie auf bevorstehende Ereignisse in ihren Gemeinden hinweisen.
Während sich die Rabbiner Walter Rothschild, Henry G. Brandt und Irit Shillor mit liturgischen Fragen beschäftigten oder die anstehende Parascha interpretierten, bot der Jugendleiter Adrian Michael Schell einen Ausblick auf das Judentum im Jahre 2050. Mit »Patrilinearität oder nur über die Mutter« sprach Rabbiner Henry G. Brandt ein heißes Thema an.
Paul Yuval Adam aus Bielefeld probte Lieder für den Schabbat. Tanja Smolianitski von der Gemeinde Duisburg bot ein russischsprachiges Seminar zu »Rituale vor dem Zubettgehen – Das Schma« an. Ohnehin ging es in den dreieinhalb Tagen sehr vielsprachig zu. So bot der Vizepräsident der Weltunion, Rabbiner Joel Oseran, einen Workshop zu interreligiösen Ehen in englischer Sprache an.
Die Mitgliederversammlung am Sonntag verabschiedete eine Resolution, in der sie den Terroranschlag auf israelische Touristen im bulgarischen Burgas aufs Schärfste verurteilte. Den Vormittag nahmen Regularien wie Haushaltsverabschiedung, Entlastung des Vorstands und Budgetplanung ein. Walter Blender aus Bad Segeberg zieht ein positives Fazit: »Ein neuer Führungsstil, gute Arbeit, interessante Angebote«, sagt der Vorsitzende aus dem Norden.