History Award

»Aus dem Vergessen gerettet«

Erforscht die Schicksale der Arnstädter Schoa-Opfer: Jörg Kaps Foto: Esther Goldberg

»Ich habe mein ganzes Leben darunter gelitten, dass man mir meine beiden Großmütter ermordet hat. Nun habe ich das Gefühl, dass ich eine gefunden habe«, schreibt die 70-jährige Alicia Szlecki aus Miami (USA) nach ihrer Begegnung mit Erica Newman in einem Altenheim. Die beiden Frauen verbindet tatsächlich eine ungeheuerliche Geschichte.

Die Großeltern der einen und die Eltern der anderen stammen aus Arnstadt, der ältesten Stadt Thüringens. Ihrer beider Vorfahren wurden von den Nazis ermordet. Die Eltern von Alicia Szlecki konnten nach Südamerika fliehen. Szlecki wurde in Uruguay geboren. Erica Newman, die inzwischen 101 Jahre alt ist, hat als Einzige in ihrer Familie den Holocaust überlebt.

Stolperstein Begegnet sind sich die beiden Frauen dank eines Arnstädters. Jörg Kaps ist in der Thüringer Kleinstadt der Initiator der Stolpersteine, die an Mitglieder der jüdischen Gemeinde erinnern. Hinter jeder einzelnen Messingplatte, 127 gibt es inzwischen in der Bach-Stadt, stehen Familiengeschichten. Jörg Kaps hat sie erforscht. Anfangs seien es einfach die Schicksale gewesen, die er vor dem Vergessen bewahren wollte, sagt er. Das ist inzwischen acht Jahre her.

Seither hat der 52-Jährige, der im Hauptberuf Sozialarbeiter an einer Schule ist, nicht nur von der Geschichte der Ermordeten in der Gedenkstätte Buchenwald und anderen Archiven erfahren. Er hat auch nach Familienangehörigen gesucht – und sie gefunden. Beispielsweise Alicia Szlecki. Ab und an schreiben sie sich.

Einmal erzählte sie ihm, dass sie ihren Sohn in Miami besuchen will. Jörg Kaps fiel sofort Erica Newman ein. Ob Alicia die alte Dame anrufen könne, um ihr in seinem Namen zum Geburtstag zu gratulieren? »Nein, ich werde hingehen und ihr eine Kerze und ein Stück Kuchen mitnehmen«, entgegnete Szlecki. So passierte es auch. Und die Frau aus Uruguay fand in Erica Newman so etwas wie eine Großmutter. Jörg Kaps hat inzwischen zu 17 Familien in Süd- und Nordamerika, in Israel und in den Niederlanden Kontakt. Es sind regelrecht Freundschaften entstanden.

Wie auch bei Stefan Goldschmidt aus Buenos Aires. Der Mann ist Ingenieur und baut Brücken. Er und Jörg Kaps skypen mindestens einmal in der Woche. Kaps erzählte dem Argentinier von der Arnstädter Großmutter und korrigierte ihn, als dieser meinte, sie sei eines von zehn Geschwistern gewesen. Nein, beharrte Kaps, in der Familie seien elf Kinder gewesen. Eines sei allerdings kurz nach der Geburt gestorben.

Emotionen Goldschmidt war so beeindruckt von der genauen Recherche des Deutschen, dass er diese Geschichte in der Laudatio auf seinen Freund erzählen musste. Es war die Laudatio für die Verleihung des »Obermayer German Jewish History Award« an Jörg Kaps im Berliner Abgeordnetenhaus. Goldschmidt war dafür extra nach Berlin gereist. Und bei allen Emotionen, die den Laudator dabei überkamen, sagte er zum Schluss deutlich und klar: »Danke, dass du die Geschichte unserer Arnstädter Vorfahren aus dem Vergessen gerettet hast.« Für Goldschmidt ist Kaps, der Sozialarbeiter, ein Brückenbauer der Geschichte.

Seit 15 Jahren wird der Obermayer German Jewish History Award jährlich an fünf Deutsche verliehen, die sich in besonderer Weise um die Aufarbeitung der Geschichte jüdischer Familien während des Holocaust kümmern. Obermayer, dessen Großeltern aus Deutschland stammen und in die USA emigriert waren, hat dafür ein Komitee gegründet.

ZUFALL Kaps ist stolz auf diesen Preis. Er weiß, dass die Familien der Arnstädter Vorfahren ausdrücklich um die Verleihung des Award an ihn gebeten haben. Auch Peter-Bernd Lederman aus New Jersey gehört dazu. Dessen Großeltern lebten in der kleinen Thüringer Stadt. Sein Großvater war der Vorsitzende der Gemeinde. Er und die Großmutter wurden in Theresienstadt ermordet.

Wiederentdeckt hat Kaps auch die Geschichte von Wilhelm David. Dieser hatte nach dem Krieg die Arnstädterin Rosa Friedmann geheiratet. Sein Sohn Erwin hatte über einen Bekannten von Jörg Kaps gehört. Möglicherweise könne er ihm bei seinen Recherchen helfen, hatte er sich per E-Mail gemeldet. Kaps antwortete vorsichtig. Er wollte ja den alten Mann in Amsterdam nicht aufschrecken. Doch zwei Minuten später klingelte das Telefon. Am Apparat Erwin David. Kaps möge so schnell wie möglich zu ihm kommen. Gern, sagt der. Kauft sich ein Navigationsgerät und fährt los.

Dokumente Einige Stunden später steht er mit klopfendem Herzen vor dem Fahrstuhl zur Wohnung des Unbekannten, findet die Wohnungstür und wird schon sehnsüchtig erwartet. »Hier«, sagt Erwin David und überreicht dem Deutschen ein Paket, bevor sie auch nur ein Wort miteinander gesprochen haben. Es sind Fotos und Dokumente seiner Stiefmutter Rosa Friedmann und ein blau-weiß kariertes Geschirrtuch aus der Aussteuer der Frau mit ihren Initialen. »Die gehören nach Arnstadt und in die Geschichte«, erklärt David ohne Umschweife.

Etwa zwei Stunden seiner Freizeit verbringt Jörg Kaps täglich mit Geschichte und Geschichten aus Arnstadt, die in die Welt reichen. Derzeit dürften es mitunter noch ein paar mehr werden. Denn im Juni will er die nächsten 14 Stolpersteine verlegen lassen. Beispielsweise für Familie Jonas. »Ich möchte die Kinder finden, die heute beinahe 90 Jahre alt sind«, sagt er. Die leben irgendwo in den USA.

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