Es war ein kleiner Pieks mit großer Bedeutung»: Man darf annehmen, dass Yehuda Pushkin, der Gemeinderabbiner der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart seine Worte sehr bewusst gewählt hat, nachdem er jüngst als einer der ersten Rabbiner in Deutschland geimpft wurde. Denn die Bedeutung liege, wie der 46-Jährige betonte, nicht nur im eigenen Schutz vor der Infektion und der lebensbedrohlichen Krankheit.
An erster Stelle stehe für ihn, dass er als Seelsorger nach einem Jahr auferlegter Distanz alten und kranken Menschen nun wieder mehr persönlichen geistigen Beistand geben könne. Und er hoffe, als Vorbild die Gemeindemitglieder zu motivieren, eventuelle Bedenken gegen eine Impfung zu überwinden und seinem Beispiel zu folgen.
Nachdruck verlieh der Rabbiner dem Appell mit einer mahnenden Erinnerung an das jüdische Gesetz, die Halacha: dass die jüdische Gemeinschaft verpflichtet ist, für die eigene wie auch die Gesundheit anderer zu sorgen. Wie es in der Tora steht: «So hütet euch denn sehr für eure Seelen» (5. Buch Mose 4,15) und «stehe nicht müßig bei dem Blut deines Nächsten» (3. Buch Mose 19,16).
Impfskepsis Elena Schwarzmann kennt dieses skeptische Zögern zum Thema Impfen, das Misstrauen, die Abwehr und die Ablehnung. Die 39-Jährige leistet als «Hygiene-Fachkraft» Aufklärungsarbeit rund um die Pandemie und das Impfen in zwei Flüchtlingsunterkünften in der Stuttgarter Innenstadt, in denen Zuwanderer, vorwiegend aus Russland, Weißrussland und der Ukraine leben.
Der Ausbruch von Corona in einem Heim wäre der Super-GAU, so Bluthardt.
«Ich weiß, wie meine Landsleute über das Impfen denken», sagt Schwarzmann, die vor 24 Jahren nach Deutschland kam, lachend. «Sie trauen der Sache nicht: Was ist Propaganda, was ist Realität?» Die Erfahrungen aus Russland sind nicht so schnell abzuschütteln. «Außerdem», so Schwarzmann, «haben Impfstoffe in Russland oft Nebenwirkungen. Und wenn damit gesundheitliche Probleme auftreten, muss man selbst damit fertig werden. Der Staat hilft nicht. Darum muss ich den Leuten hier vor allem die Angst nehmen.» Unter anderem mit der Versicherung, dass sie selbst keinerlei Risiko befürchte.
«Derzeit haben wir mehrere Dutzend überwiegend jüdische Bewohner», erklärt Boris G., der pädagogische Leiter der zwei Unterkünfte, die von der Stadt Stuttgart gestellt, aber von der IRGW betreut werden. Denn der Zuzug jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, der nach dem Untergang des Kommunismus die jüdischen Gemeinden in Deutschland stärkte, sei keineswegs zum Erliegen gekommen.
familien Die neue Zuwanderer-Welle habe 2017 eingesetzt und hänge mit der Besetzung der Krim durch Russland und dem Krieg im Osten der Ukraine zusammen, erläutert Boris G. Es seien die 20- bis 50-Jährigen, die sich jetzt zur Ausreise entschließen. Familien mit Kindern, kleinen und größeren im Teenager-Alter. Sie hätten nicht mehr wie Anfang der 90er-Jahre den Status von Kontingentflüchtlingen und müssten eine Integrationsprognose erfüllen.
Aber auch, wenn sie bis zu einem Jahr auf den positiven Bescheid warten müssten: «Sie wollen einfach weg», weiß Boris G. «Für eine bessere und sichere Zukunft, wirtschaftlich und politisch.»
«Die Impferfahrungen in Russland sind nicht so schnell abzuschütteln», weiß Schwarzmann.
Das Wort Flüchtling umfasst einen ganzen Katalog schicksalhafter Entscheidungen mit Verlust, Abschied, Schmerz, Hoffnung und der Herausforderung, einen neuen Anfang zu wagen, sich in einem neuen Land zurechtzufinden und wieder eine Existenz zu schaffen. Boris G. hilft mit den nötigen Informationen.
«Die Antworten, wie das Leben hier funktioniert, fangen bei ganz banalen Themen an», sagt er. Mülltrennung zum Beispiel, die Pflicht zur Kehrwoche, aber auch Unterstützung bei Anträgen und den Gängen zu den Behörden, zum Arzt, zum Einkaufen. Der Ausbruch der Pandemie mache alles schwieriger, der Lockdown erfordert Beistand beim Homeschooling von Kindern und Erwachsenen beim Erlernen der deutschen Sprache.
Umso glücklicher sind er und Dagmar Bluthardt, die Leiterin des Sozialdienstes der IRGW, dass die Stadt für diesen Bereich besondere Stellen geschaffen hat: «Der Ausbruch von Corona in einem Heim wäre der Super-GAU», sagt Dagmar Bluthardt.
Aufklärungsarbeit «Das Sozialamt der Stadt hat in allen 102 Flüchtlingsunterkünften zusammen mit den Trägern der Flüchtlingshilfe neben vielen anderen Vorsorgemaßnahmen zum Schutz vor Corona Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eingestellt, die intensive Aufklärungsarbeit leisten und die jeweilige Hausleitung vor Ort unterstützen», heißt es in einer offiziellen Information aus dem Rathaus. Eine schnelle Reaktion Ende des vergangenen Jahres auf die weiter steigenden Infektionszahlen.
Elena Schwarzmann hat sofort Ja gesagt, als die IRGW bei ihr anfragte, ob sie diese Aufgabe in den beiden Häusern übernehmen könne. Die richtige Frau am richtigen Ort. «Wir hätten keine bessere finden können», zollt Dagmar Bluthardt Beifall. Welche Kompetenz muss man dafür mitbringen? Die Studien der Sprachwissenschaft, und der Ur- und Frühgeschichte der Paläontologie, die die Mutter von zwei Kindern, neun und vier Jahre alt, absolviert hat, sind dafür wohl weniger relevant.
Einfühlungsvermögen und Augenhöhe sind wichtig, um Hygieneregeln durchzusetzen.
«Stimmt», sagt Elena Schwarzmann und lacht wieder. Viel wichtiger sei, dass sie sowohl die Mentalität als auch die Sprache der neu Ankommenden versteht. Auf Augenhöhe und mit viel Einfühlungsvermögen kann sie ihr Mantra predigen: Abstand halten, regelmäßig lüften, Hände waschen, Desinfektionsmittel benutzen und überall, ausgenommen zu Hause, Maske tragen.
Reisen Von ihrem Vater, einem Arzt, hat sich Elena Schwarzmann im Umgang mit Schnelltests unterweisen lassen. Die neuesten Corona-Beschlüsse legt sie in russischer Kurzfassung aus. Und als eine Frau dringend nach Wladiwostok reisen wollte, hat sie alles ganz genau mit ihr geplant und jeden Schritt abgesprochen und ihr gesagt, «dass sie bei der Heimkehr am Flughafen einen Test machen muss und auch bei negativem Ergebnis zehn Tage in Quarantäne geht». So wurde es gemacht, alles ging gut, inzwischen hat sich auch die zweite Bewohnerin zu einem Besuch der Heimat auf den Weg gemacht.
«Wir haben keinen einzigen Fall von Corona», können Boris G., Elena Schwarzmann und Dagmar Bluthardt mit Dankbarkeit versichern. «Weil die Bewohner alle einsichtig, vorsichtig und sehr diszipliniert sind», stellt ihnen Schwarzmann das beste Zeugnis aus. Nur bei den Teenagern, da müsse sie manchmal streng werden. Auch wenn sie Verständnis für den Freiheitsdrang und die Partywünsche der Jugend habe. Ob sie allerdings alle von der Notwendigkeit und Gefahrlosigkeit einer Impfung überzeugen könne, will Elena Schwarzmann nicht mit absoluter Sicherheit sagen.