Man könnte meinen, dass erinnerungstechnisch in München alles getan wird, um sich vom unseligen Titel »Hauptstadt der Bewegung« freizumachen, der Mitte der 30er-Jahre der bayerischen Landeshauptstadt als nationalsozialistischer »Ehrentitel« verpasst wurde. Die Abteilung »Public History« im Kulturreferat der Landeshauptstadt München rief 2024 ein Projekt ins Leben, das sich inzwischen zu einem »Programm zur Nachkriegszeit in München von Januar bis Mai 2025 mit mehr als 220 Beiträgen von rund 130 Partnerinnen und Partnern« entwickelt hat.
Ferner fanden sich für eine »Literarische Woche gegen Antisemitismus« (20. bis 27. Januar) sieben Münchner Institutionen zusammen, die das ganze Jahr Literatur kuratieren, präsentieren und teilweise auch archivieren. Zeitnah zum Internationalen Holocaust-Gedenktag steht nichts Geringeres auf dem Plan als »Haltung beziehen, Solidarität zeigen, Lösungen finden«, auf alle Fälle »ein Zeichen gegen Antisemitismus« zu setzen.
Teil der »Reeducation« der Münchner Bevölkerung
Das will auch die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit seit dem Jahr 1948, als sie auf Betreiben der US-amerikanischen Militärregierung in München gegründet wurde, als Teil der »Reeducation« der Münchner Bevölkerung als Demokraten und mit dem Ziel einer versöhnlichen Annäherung von Christen und Juden. Der 2023 erschienene Sammelband Der Zukunft ein Gedächtnis – 75 Jahre christlich-jüdischer Dialog in München spiegelt diesen Prozess des Ringens um Verständigung wider. Dabei gab es – aus historischer Sicht nachvollziehbar – für diesen Dialog stets viel mehr christliche Interessenten als jüdische.
Einen Tag nach dem Abschluss der alljährlichen »Woche der Brüderlichkeit«, die 2025 unter dem Motto »Füreinander Streiten« steht, beginnen ferner – auch in München – die »Internationalen Wochen gegen Rassismus«. Sie dauern vom 17. bis 30. März und folgen dieses Jahr dem Appell »Menschenwürde schützen«. Die Anfänge dafür reichen zurück bis ins Jahr 1995. Seit Januar 2016 wird die Vielzahl von Veranstaltungen von einer gleichnamigen Stiftung koordiniert.
Wird es dank der Arbeit aller involvierten Institutionen und der offensichtlichen Fülle an Veranstaltungen weniger antijüdische, rassistisch motivierte, anti-amerikanische, anti-israelische, frauenhassende, behindertenfeindliche, religiös motivierte oder menschenverachtende Übergriffe geben? Es ist zu befürchten: Nein. Oft sind die Absichten redlich, doch bereits die Begrifflichkeiten sind heikel. Ein Beispiel ist der Titel des Schwerpunktprogramms, mit dem das Kulturreferat an das Kriegsende vor 80 Jahren, die Befreiung von der NS-Diktatur und den Neubeginn erinnern will: »1945–2025 Stunde Null? Wie wir wurden, was wir sind«.
Ausgerechnet schuldig Gewordene verhandelten die Anliegen von Überlebenden.
Hinter die »Stunde Null« wurde zwar ein Fragezeichen gesetzt. Dennoch bleibt der ganze Begriff toxisch, bestenfalls Wunschdenken und jedenfalls eine Verschleierung der realen Verhältnisse. Eine »Stunde Null«, von der aus man ganz neu hätte anfangen können, konnte es schon deshalb nicht geben, weil die einheimische Bevölkerung vor und nach dem 8. Mai 1945 dieselbe war. Es gab zu viele nicht überführbare Täter, Befehlsgebende, Befehlsempfänger, Nutznießer und Wegschauer.
Es gab zu viel Zerstörung, zu viele Traumatisierte, zu wenig Wohnraum, zu wenig Essen, eine zerstörte Infrastruktur. Gleichzeitig schafften es zu viele mithilfe ihrer alten Seilschaften in Schaltstellen von Behörden, Ärzteschaft, Journalismus, Justiz und Polizeiapparat. Dank ihrer fachlichen Expertise verhandelten ausgerechnet schuldig Gewordene, mindestens Belastete, weiterhin die Anliegen von Überlebenden, Geschädigten, Entwurzelten – oft ohne jede Empathie.
Auf Augenhöhe mit deutschen Behörden anlegen
Wer sich wie der deutsche Jude Philipp Auerbach, von 1946 bis 1951 in Bayern »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte«, auf Augenhöhe mit deutschen Behörden zum Wohle der »Scherit Hapleita«, des Rests der Geretteten, anlegte, wurde verleumdet und einem Schauprozess ausgesetzt. Zu Unrecht verurteilt, nahm er sich in der Nacht nach dem Schuldspruch 1952 das Leben.
Max Mannheimer, am 30. April 1945 nahe Tutzing befreit, verließ Deutschland, fest entschlossen, nie mehr zurückzukehren. Es kam anders, 1947 ließ er sich in München nieder, weil hier sein Freund Ernest Landau, ein ehemaliger Leidensgefährte im KZ Dachau, Fuß gefasst hatte. Kurz nach seiner Ankunft lief Mannheimer am Marienplatz ein ehemaliger Wachmann, dem er 1943 in Warschau ausgeliefert gewesen war, über den Weg. Er rief die Polizei, der Mann wurde verhaftet, jedoch bald nach Hause entlassen. Kurz danach zog der Täter weg. So sah seinerzeit die »Stunde Null« in München aus – und nicht nur hier.