Geschichte

Aufbau und Neubeginn

Er war fest entschlossen, nie mehr nach Deutschland zurückzukehren: der Holocaust-Überlebende Max Mannheimer (1920–2016) Foto: picture-alliance / dpa

Geschichte

Aufbau und Neubeginn

Mit zahlreichen Veranstaltungen erinnert die Stadt an die Nachkriegszeit und geht der Frage nach, ob es tatsächlich eine »Stunde Null« gab

von Ellen Presser  26.01.2025 14:32 Uhr

Man könnte meinen, dass erinnerungstechnisch in München alles getan wird, um sich vom unseligen Titel »Hauptstadt der Bewegung« freizumachen, der Mitte der 30er-Jahre der bayerischen Landeshauptstadt als nationalsozialistischer »Ehrentitel« verpasst wurde. Die Abteilung »Public History« im Kulturreferat der Landeshauptstadt München rief 2024 ein Projekt ins Leben, das sich inzwischen zu einem »Programm zur Nachkriegszeit in München von Januar bis Mai 2025 mit mehr als 220 Beiträgen von rund 130 Partnerinnen und Partnern« entwickelt hat.

Ferner fanden sich für eine »Literarische Woche gegen Antisemitismus« (20. bis 27. Januar) sieben Münchner Institutionen zusammen, die das ganze Jahr Literatur kuratieren, präsentieren und teilweise auch archivieren. Zeitnah zum Internationalen Holocaust-Gedenktag steht nichts Geringeres auf dem Plan als »Haltung beziehen, Solidarität zeigen, Lösungen finden«, auf alle Fälle »ein Zeichen gegen Antisemitismus« zu setzen.

Teil der »Reeducation« der Münchner Bevölkerung

Das will auch die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit seit dem Jahr 1948, als sie auf Betreiben der US-amerikanischen Militärregierung in München gegründet wurde, als Teil der »Reeducation« der Münchner Bevölkerung als Demokraten und mit dem Ziel einer versöhnlichen Annäherung von Christen und Juden. Der 2023 erschienene Sammelband Der Zukunft ein Gedächtnis – 75 Jahre christlich-jüdischer Dialog in München spiegelt diesen Prozess des Ringens um Verständigung wider. Dabei gab es – aus historischer Sicht nachvollziehbar – für diesen Dialog stets viel mehr christliche Interessenten als jüdische.

Einen Tag nach dem Abschluss der alljährlichen »Woche der Brüderlichkeit«, die 2025 unter dem Motto »Füreinander Streiten« steht, beginnen ferner – auch in München – die »Internationalen Wochen gegen Rassismus«. Sie dauern vom 17. bis 30. März und folgen dieses Jahr dem Appell »Menschenwürde schützen«. Die Anfänge dafür reichen zurück bis ins Jahr 1995. Seit Januar 2016 wird die Vielzahl von Veranstaltungen von einer gleichnamigen Stiftung koordiniert.

Wird es dank der Arbeit aller involvierten Institutionen und der offensichtlichen Fülle an Veranstaltungen weniger antijüdische, rassistisch motivierte, anti-amerikanische, anti-israelische, frauenhassende, behindertenfeindliche, religiös motivierte oder menschenverachtende Übergriffe geben? Es ist zu befürchten: Nein. Oft sind die Absichten redlich, doch bereits die Begrifflichkeiten sind heikel. Ein Beispiel ist der Titel des Schwerpunktprogramms, mit dem das Kulturreferat an das Kriegsende vor 80 Jahren, die Befreiung von der NS-Diktatur und den Neubeginn erinnern will: »1945–2025 Stunde Null? Wie wir wurden, was wir sind«.

Ausgerechnet schuldig Gewordene verhandelten die Anliegen von Überlebenden.

Hinter die »Stunde Null« wurde zwar ein Fragezeichen gesetzt. Dennoch bleibt der ganze Begriff toxisch, bestenfalls Wunschdenken und jedenfalls eine Verschleierung der realen Verhältnisse. Eine »Stunde Null«, von der aus man ganz neu hätte anfangen können, konnte es schon deshalb nicht geben, weil die einheimische Bevölkerung vor und nach dem 8. Mai 1945 dieselbe war. Es gab zu viele nicht überführbare Täter, Befehlsgebende, Befehlsempfänger, Nutznießer und Wegschauer.

Es gab zu viel Zerstörung, zu viele Traumatisierte, zu wenig Wohnraum, zu wenig Essen, eine zerstörte Infrastruktur. Gleichzeitig schafften es zu viele mithilfe ihrer alten Seilschaften in Schaltstellen von Behörden, Ärzteschaft, Journalismus, Justiz und Polizeiapparat. Dank ihrer fachlichen Expertise verhandelten ausgerechnet schuldig Gewordene, mindestens Belastete, weiterhin die Anliegen von Überlebenden, Geschädigten, Entwurzelten – oft ohne jede Empathie.

Auf Augenhöhe mit deutschen Behörden anlegen

Wer sich wie der deutsche Jude Philipp Auerbach, von 1946 bis 1951 in Bayern »Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte«, auf Augenhöhe mit deutschen Behörden zum Wohle der »Scherit Hapleita«, des Rests der Geretteten, anlegte, wurde verleumdet und einem Schauprozess ausgesetzt. Zu Unrecht verurteilt, nahm er sich in der Nacht nach dem Schuldspruch 1952 das Leben.

Max Mannheimer, am 30. April 1945 nahe Tutzing befreit, verließ Deutschland, fest entschlossen, nie mehr zurückzukehren. Es kam anders, 1947 ließ er sich in München nieder, weil hier sein Freund Ernest Landau, ein ehemaliger Leidensgefährte im KZ Dachau, Fuß gefasst hatte. Kurz nach seiner Ankunft lief Mannheimer am Marienplatz ein ehemaliger Wachmann, dem er 1943 in Warschau ausgeliefert gewesen war, über den Weg. Er rief die Polizei, der Mann wurde verhaftet, jedoch bald nach Hause entlassen. Kurz danach zog der Täter weg. So sah seinerzeit die »Stunde Null« in München aus – und nicht nur hier.

München

Hand in Hand

Ein generationsübergreifendes Social-Media-Projekt erinnert an das Schicksal von Schoa-Überlebenden – Bayern-Torwart Daniel Peretz und Charlotte Knobloch beteiligen sich

von Luis Gruhler  15.04.2025

Literatur

Die Zukunft Israels hat längst begonnen

Der Schriftsteller Assaf Gavron stellte im Jüdischen Gemeindezentrum seinen aktuellen Erzählband vor

von Nora Niemann  14.04.2025

Porträt der Woche

Eigene Choreografie

Galyna Kapitanova ist IT-Expertin, Madricha und leitet eine Tanzgruppe

von Alicia Rust  14.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Kaiserslautern

»Jetzt beginnt etwas Neues«

Mehr als fünf Jahre hat sich die Sanierung des Gemeindehauses der Jüdischen Kultusgemeinde der Rheinpfalz in Kaiserslautern hingezogen. Am Sonntag wurde das Zentrum mit der neu gestalteten Synagoge seiner Bestimmung übergeben

von Joachim Schwitalla  11.04.2025 Aktualisiert

Feiertage

Pessach ist das jüdische Fest der Freiheit - und der Frauen

Die Rolle und Verdienste von Frauen würdigen - dafür ist Pessach eine gute Gelegenheit, sagen Rabbinerinnen. Warum sie das meinen und welchen Ausdruck diese Perspektive findet

von Leticia Witte  11.04.2025

Erinnerungen

Als Charlotte Knobloch ihren ersten Kaugummi aß

Als jüdisches Mädchen überlebte sie die Nazizeit in einem Versteck, bis die Amerikaner ins Dorf kamen. Für Charlotte Knobloch ist das Kriegsende mit süßen und dramatischen Erinnerungen verbunden

 11.04.2025

Pessach

Lang, länger, Seder

Schnell mal eben feiern? Von wegen. Für den ersten Abend muss man sich Zeit nehmen – warum eigentlich? Und wie kommen alle gut unterhalten bis zum Afikoman? Wir haben nachgefragt

von Katrin Richter  11.04.2025

Pessach

Kraft und Zuversicht

Das jüdische Volk war von jeher stark und widerstandsfähig – wir werden auch die Herausforderungen der heutigen Zeit bestehen

von Charlotte Knobloch  11.04.2025