Portät der Woche

Auf Vaters Spuren

Sylvia Salomon setzte im Laufe von Jahrzehnten das Mosaik ihrer Herkunft zusammen

von Gerhard Haase-Hindenberg  28.08.2024 14:13 Uhr

»Die jüdischen Wurzeln sind mir mittlerweile sehr wichtig, weil sie eine Form der Zugehörigkeit bedeuten«: Sylvia Salomon (74) aus Berlin Foto: Stephan Pramme

Sylvia Salomon setzte im Laufe von Jahrzehnten das Mosaik ihrer Herkunft zusammen

von Gerhard Haase-Hindenberg  28.08.2024 14:13 Uhr

In meine Wohnung hier in Kreuzberg zog ich im Oktober 1972, nachdem ich schon im Jahr zuvor nach Berlin gekommen war. Freunde, mit denen ich vor meinem Umzug in einer WG in Freiburg gewohnt hatte, waren inzwischen auch hier. Sie hatten zwei Wohnungen zusammengelegt, und ich zog bei ihnen ein. In dem einen Teil dieser Wohnung wohne ich noch immer, inzwischen allein mit meinen drei Katzen. Obgleich ich mehr als ein halbes Jahrhundert hier lebe, tue ich mich oft schwer, diesen Kiez als mein Zuhause zu empfinden.

Generell verband mich mit Berlin immer eine gewisse Hass-Liebe, ohne zu wissen, woher das kam. Jedenfalls bin ich in dieser Stadt nie wirklich innerlich angekommen. Dabei stammen die Familie meines Vaters und er selbst aus Berlin, aber es war ja niemand von denen mehr da, als ich hierherkam. Meine Urgroßeltern kann ich immerhin noch auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee besuchen. Das aber habe ich erst vor ein paar Jahren erfahren.

Es gab ein Gespräch mit dem Schuldirektor.

Geboren bin ich in Amsterdam, kam aber schon im Vorschulalter nach Deutschland. Für meinen Vater war es eine Rückkehr, für mich und meinen zwei Jahre älteren Bruder war dies ein fremdes Land mit einer anderen Sprache, die wir jedoch schnell lernten. Durch Vermittlung eines Geschäftspartners meines Vaters waren wir nach Sillenbuch gezogen, einen Stadtteil von Stuttgart. Kurze Zeit später haben sich meine Eltern scheiden lassen. Mein Bruder und ich wuchsen bei meinem Vater auf, was in der damaligen Zeit ungewöhnlich, für meinen Vater aber sehr wichtig war. Sehr viel später hat er mir erzählt, dass es ihm nach dem Ende seiner KZ-Haft ein großes Anliegen gewesen sei, eine Familie zu gründen. So gab es bald nach der Scheidung eine zweite Frau in seinem Leben, und ich bekam noch einen kleinen Halbbruder.

Als ich 14 Jahre alt war, erlebte ich eines Tages meinen Vater mit einer für ihn völlig untypischen Reaktion. Mein älterer Bruder war aus der Schule gekommen und hatte wie nebenbei gefragt, was eigentlich »Jud Süß« bedeute. Einer seiner Freunde hatte diesen Begriff im elterlichen Haushalt aufgeschnappt und ihn nun ohne böse Absicht meinem Bruder als Kosenamen gegeben. Mein Vater war kalkweiß im Gesicht geworden, hatte sich abrupt von uns weggedreht und in einem ungewöhnlich scharfen Ton gefragt: »Wer hat das gesagt?« Die Situation war für mich ganz furchtbar, weil ich meinen ansonsten so gelassenen und verständnisvollen Vater nicht wiedererkannte. Plötzlich war eine geheimnisvolle und bedrohliche Atmosphäre entstanden.

Heute erfüllt es mich mit Traurigkeit, dass wir nicht mehr mit Vater über sein Judentum reden können.

An einem der nächsten Tage fand deswegen sogar ein Gespräch mit dem Schuldirektor statt. Das konnte ich alles nicht einordnen, aber die Neugier war natürlich geweckt, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was Jude bedeutet. Darüber wurde damals bei uns nicht gesprochen, auch nicht, dass der Familienname Salomon ein jüdischer Name ist. Ich weiß heute nicht mehr, wann ich vom familiären Hintergrund meines Vaters erfahren habe, aber ich muss schon eine junge Erwachsene gewesen sein. Inzwischen war ich durch die 68er-Studentenbewegung dafür sensibilisiert worden, was die Generation vor uns in der Nazi-Zeit getrieben hat.

Ich kann mich nicht entsinnen, ob ich meinen Vater direkt gefragt habe oder ob es dieser allgemeinen Situationen geschuldet war, jedenfalls hat er irgendwann seine Haftzeit im KZ Buchenwald erwähnt. Er erzählte auch, dass er sich zusammen mit einem anderen Häftling Anfang 1945 vom Todesmarsch abgesetzt habe. Als 30 Jahre später der US-Mehrteiler Holocaust im Fernsehen lief, weigerte er sich allerdings, den Film anzusehen. Er sagte, da kämen nur schlechte Erinnerungen hoch.

Mitte der 80er-Jahre fing er an, mich in Berlin zu besuchen. Damals ging ich regelmäßig in eine Kneipe, in der die Leute vom Grips-Theater verkehrten, die gerade an dem Theaterstück Ab heute heißt du Sara! arbeiteten. Da war mein Vater für sie als Zeitzeuge natürlich interessant. Inzwischen wusste ich zwar schon von seiner jüdischen Herkunft, nun aber hat er weitere Teile seiner Biografie erzählt. Allerdings nur in kurzen Fragmenten, ehe er immer wieder Bemerkungen machte wie: »Ach, lassen wir das! Freuen Sie sich, dass Sie damals nicht gelebt haben!«

Ich aber setzte diese fragmentarischen Erinnerungen peu à peu zu einem Mo­saik zusammen. Erst nach dem Tod unseres Vaters erfuhren mein jüngerer Bruder und ich aus Unterlagen des NS-Archivs in Bad Arolsen weitere Details seiner Verfolgungsgeschichte. Zum Beispiel, dass er in Wien von der Gestapo verhaftet worden war. Bis dahin wussten wir gar nicht, dass er sich je in Wien aufgehalten hatte. Heute bin ich meinem Vater sehr dankbar, dass er die jüdische Herkunft während meiner Sozialisation nicht in den Vordergrund gerückt hat. Meine Brüder und ich sind daher nicht mit Angst aufgewachsen, und die Schutzwirkung hat fast bis heute gehalten. Nun aber, als wir die Unterlagen in Händen hielten, die wir in verschiedenen Institutionen fanden, erfüllt es mich mit einer tiefen Traurigkeit, dass wir nicht mehr mit ihm darüber sprechen können.

In Berlin habe ich neben Philosophie und Ethnologie auch Sozialpädagogik und im Hauptfach Psychologie studiert. Danach habe ich viele Jahre beratend als Familientherapeutin gearbeitet. Zur selben Zeit habe ich mich für alternative Projekte engagiert, wie das Kulturprojekt der UFA-Fabrik, wobei ich dort die Freie Schule mit aufgebaut habe. Als ich Leute aus der Filmbranche kennenlernte, war ich eine Weile als Casterin für die Besetzung von Filmen tätig. Gelegentlich stand ich auch selbst für kleinere Rollen vor der Kamera. Die Arbeit als Familientherapeutin habe ich in dieser Zeit reduziert, ganz aufgegeben habe ich sie aber nie. Neben all diesen Tätigkeiten war ich auch noch alleinerziehende Mutter eines Sohnes. Da blieb wenig Zeit für individuelle Freizeitaktivitäten.

Als mein Sohn nach der Grundschule zur Jüdischen Oberschule wechselte, sah ich plötzlich, dass viele Dinge, die ich von meinem Vater kannte, mit jüdischen Ritualen zu tun hatten. So brachte er mir bei seinem ersten Besuch in Berlin zwei Silberleuchter, wie er sagte, »für den Esstisch« mit. Natürlich sind das Schabbatleuchter. Ich lernte durch jüdische Eltern, die ich als langjährige Elternvertreterin kannte, den Kabbalat Schabbat am Freitagabend kennen. Wir waren auch hier und dort zu den Schabbatfeiern eingeladen und zum Seder an Pessach.

Woher hatte mein Vater die Challah?

Dabei entdeckte ich die rituelle Bedeutung der Challa, die ich als Kind Zopfbrot nannte. Solche gab es nämlich in ähnlicher Form auch in süddeutschen Bäckereien – das aber, was mein Vater mitbrachte, war mit Mohn oder Sesam bestreut. So wie ich es nun bei jüdischen Eltern der Klassenkameraden meines Sohnes wiedersah. Bis heute weiß ich nicht, woher mein Vater die Challa hatte. Ich stellte auch fest, dass sein Erziehungsstil, nämlich die Kinder in den Mittelpunkt zu stellen, bei diesen jüdischen Familien ganz genauso war. Im Gegensatz zu vielen Familien meiner einstigen schwäbischen Mitschüler.

Auf diese Weise nun habe ich meinen Vater spät von einer anderen Seite neu kennengelernt. So wurde die Zeit meines Sohnes an der Jüdischen Oberschule und meine als Elternvertreterin dort für mich zu einer Entdeckungsreise in die eigene Familiengeschichte. Vor allem kam ich immer mehr in die jüdische Community hinein. Parallel beschäftigten sich mein jüngerer Bruder und ich nicht nur mit der Verfolgungsgeschichte des Vaters, sondern zunehmend auch mit der Frage: Woher kommen wir?

Die Frage der Identifikation mit unserer jüdischen Herkunft bekam eine immer größere Bedeutung. Schließlich haben wir Verwandte meines Vaters in Brasilien ausfindig gemacht und sie auch besucht. Von ihnen erfuhren wir, dass unsere Urgroßeltern in Weißensee bestattet sind. Heute sind mir diese jüdischen Wurzeln sehr wichtig, weil sie eine Form der Zugehörigkeit bedeuten. Mein Sohn hat inzwischen sein Studium der Kulturwissenschaften und Geschichte mit einem Master an der Humboldt-Universität abgeschlossen – an jener Universität, die sein Großvater 1933 hatte verlassen müssen.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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