München

»Auf unsere Stärke besinnen«

Der Seder an Pessach verbindet Juden in aller Welt: Pessach Kascher we-Sameach! Foto: Marina Maisel

Um die Gegenwart analysieren und Entscheidungen für die Zukunft treffen zu können, ist es unerlässlich, sich auch die Vergangenheit immer wieder bewusst vor Augen zu führen. Dieses Konzept der Erinnerung hat das jüdische Denken entscheidend geprägt und ist Wesenselement des jüdischen Selbstverständnisses.

Wir leben diese Tradition des Erinnerns – ganz besonders zu Pessach, wenn der Einzelne mental selbst Teil der Vergangenheit wird. Wir vollziehen die Sklaverei nach, die Befreiung, und begeben uns auf den Weg zur Selbstbestimmung. Wir beginnen diese Reise in der Vergangenheit in Ägypten und beenden sie in unserer Gegenwart – und »Nächstes Jahr in Jerusalem«. Der daraus resultierende Erkenntnisprozess bestimmt unser aktuelles Denken und Handeln.

bedrohung Wir müssen uns nicht die schrecklichen Bilder und Nachrichten aus Israel ins Gedächtnis rufen oder die Terroranschläge andernorts, die mit den Städtenamen Brüssel, Paris, Kopenhagen, Istanbul oder Toulouse verbunden sind, um die tägliche Gefahr zu spüren. Judenhass bedroht uns seit jeher existenziell – als Einzelperson, als Volk und mit Israel auch den jüdischen Staat.

Nur sieben Jahrzehnte nach der Schoa, ein Wimpernschlag in der langen Geschichte des jüdischen Volkes, ist die weitgehende Tabuisierung antisemitischer Äußerungen in der Öffentlichkeit auch hierzulande einer zunehmenden Gewöhnung an alltägliche judenfeindliche Tiraden und Praktiken gewichen. Antijüdische Gewalt- und Straftaten jeglicher Form sind wieder überall präsent, nehmen an Zahl und Intensität zu.

In Deutschland wurden im Jahr 2015 jeden Tag durchschnittlich zwei antisemitische Straftaten polizeilich erfasst. Dabei zeigen die offiziellen Zahlen nur einen Bruchteil der täglichen Vorkommnisse – von geschändeten Friedhöfen, Schmierereien an Gedenkstätten, jüdischen Einrichtungen und jüdischem Eigentum bis hin zu verbalen und körperlichen Angriffen auf jüdische Menschen.

AfD Antisemitismus ist kein Phänomen in weiter Ferne, er ist längst bei uns angekommen und bedroht uns von vielen Seiten. Der Rechtsruck in ganz Europa, der mit Pegida auf deutschen Straßen und mit der AfD in deutschen Parlamenten Einzug gehalten hat, ist in seiner Massivität und Radikalität erschreckend. Die Verrohung und Enthemmung, die im Internet beginnt und früher oder später in Übergriffen und Anschlägen mündet, ist alarmierend. Zumal der Antisemitismus im Rechtsextremismus konstituierender Bestandteil ist.

Weltweit verschärft sich die Bedrohungslage durch den islamistischen Terrorismus. Egal, welches Ziel die Mörder wählen, jedem sollte klar sein, dass diese Anschläge uns allen gelten, unserer Freiheit, unserer Lebensweise, all unseren Errungenschaften, die unter enormen Opfern erkämpft wurden und die es zu beschützen und zu verteidigen gilt.

Dass immer wieder gezielt Juden mitten in Europa zum Ziel islamistischen Terrors werden, belegt nicht nur den in der muslimischen Kultur verbreiteten Antisemitismus, dessen Radikalisierung unter den hier lebenden Muslimen viel zu lange sträflich vernachlässigt und verharmlost wurde. Paris und Brüssel spiegeln auch die extremen Auswüchse von unkontrollierbaren Parallelgesellschaften wider, die sich dort entwickeln konnten und die es auch bei uns in Deutschland gibt. Politisch und gesellschaftlich muss alles daran gesetzt werden, dass diese Tendenz nicht durch neues Integrationsversagen bei der Eingliederung der Flüchtlinge verstärkt wird.

Respekt Zu Pessach, ein Synonym für Freiheit, gehören die wunderbaren Rituale der Sederabende, die wir im Kreis unserer Familien und Freunde verbringen. Diese Rituale verbinden nicht nur Juden in aller Welt, sondern alle Menschen, die in Frieden und Freiheit und gegenseitigem Respekt miteinander leben wollen. In den westlichen Verfassungen gehören Werte, Prinzipien und Menschenrechte, die ein respektvolles und freiheitliches Miteinander garantieren, zur uneingeschränkten Grundlage.

Eine Art Seismograf für Freiheit und Menschenrechte war über viele Jahrhunderte hinweg die Antwort auf die Frage, wie in einer Gesellschaft, einem Staat, Juden respektiert werden und wie stark Antisemitismus ausgeprägt ist. Die aktuelle Antwort darauf ist, dass mitten in Europa Juden wieder gezielt Opfer von Mordanschlägen werden, weil sie Juden sind.

In dieser höchst beunruhigenden Zeit ist der Zusammenhalt unserer Gemeinde wichtiger denn je, ein elementarer Baustein in unserem Gefüge. Zusammenhalt verleiht uns mehr Gewicht und dient unseren eigenen Interessen. Je größer wir sind, je geschlossener und gefestigter wir agieren, desto stärker sind wir, desto besser können wir unseren Stellenwert in der Gesellschaft behaupten und anspruchsvolle Projekte wie das neue jüdische Gymnasium, das neue Seniorenheim und den weiteren notwendig gewordenen Friedhof realisieren. Pessach ist ein Fest, an dem wir uns auf unsere eigenen Stärken besinnen können. Unsere Gemeinde, wir alle, dürfen stolz darauf sein, was wir gemeinsam geleistet haben und leisten.

stolz Hier am Jakobsplatz, im Herzen der Stadt München und vor dem Hintergrund ihrer Geschichte, erleben wir ein ungeahntes Gottesgeschenk: Unsere jüdische Gemeinde ist zu einem Ort des Lebens geworden. Baruch Haschem! Menschen kommen und gehen, Menschen jedes Alters aus aller Herren Länder. Ihnen allen bietet unsere Gemeinde etwas für ihr Leben, für ihr jüdisches Leben. Darauf dürfen wir alle stolz sein, weil es ein gemeinsames Werk ist.

Wir müssen uns aber auch klar darüber sein, dass die Gemeinde nur als Solidargemeinschaft bestehen kann. Judentum und Jüdischkeit leben und schützen, dauerhaft für unsere Kinder, Enkel und Urenkel, geht nur mit gemeinsamer Stärke. Deshalb brauchen wir jedes Gemeindemitglied – keiner sollte sich außerhalb der Gemeinschaft befinden.

Ich wünsche Ihnen allen und Ihren Familien ein koscheres und frohes Pessachfest. Pessach Kascher we-Sameach!

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