Meinen Koffer brauchte ich gar nicht mehr wegzuräumen, denn ich war quer durch Deutschland unterwegs. Der letzte Sommer war eine wilde Zeit für mich. Oft saß ich im Zug, um zu verschiedenen Treffen und Events zu kommen. Die »Reisemonate« fingen mit der Jewrovision in Frankfurt im Mai an, bei der ich als Madricha Kinder und Jugendliche betreute, was teilweise sehr anstrengend war.
Zum Sommermachane fuhr ich als Teilnehmende, denn ich war zu diesem Zeitpunkt noch keine 18 Jahre alt. Und dann waren da noch die Treffen des Projektes »Meet a Jew«, bei dem ich mich seit bald zwei Jahren engagiere, und weitere Events. Dabei war es mir wichtig, immer kurz vor Schabbat anzukommen. Erst sonntags konnte ich wieder nach Berlin fahren. Da kam es schon mal vor, dass ich am Montag etwas müde in der Schule saß. Ich powerte richtig durch.
Und jetzt sitze ich schon wieder auf einem gepackten Koffer, denn nun fliege ich in die USA zum Jahrestreffen der internationalen Jugendorganisation BBYO. Zum ersten Mal – und ich bin sehr neugierig, wie es wohl wird. Ich finde es spannend, Jüdinnen und Juden aus der ganzen Welt kennenzulernen. Es ist eine gute Möglichkeit, sich zu vernetzen. Sehr interessant finde ich, dass das Programm auch von den Teilnehmern gestaltet wird.
Vorbereitung auf die schriftlichen Abitur-Klausuren
Wenn ich Ende Februar zurück bin, ist es Zeit, mich auf die schriftlichen Abitur-Klausuren vorzubereiten, die nun anstehen. Deshalb werde ich mein Leben neben der Schule dann etwas ruhiger angehen. Für das mündliche Prüfungsfach habe ich den Nahostkonflikt als Thema gewählt – zusammen mit meiner besten Freundin, die Palästinenserin ist. Schon vorher hatte ich mich durch mehrere Sachbücher zu diesem Thema durchgearbeitet, weil ich so viel wie möglich darüber wissen wollte. Meine Freundin kenne ich von klein auf, denn wir waren schon im Kindergarten befreundet. Sie wohnt ein paar Häuser weiter von mir entfernt. Später verloren wir uns aber aus den Augen.
Als ich sie vor einiger Zeit zufällig wiedertraf und ihr davon berichtete, dass ich mich auf meinem Gymnasium in Kreuzberg nicht mehr so wohlfühle, schwärmte sie von ihrer neuen Schule und schlug vor, dass ich dahin wechsle. Das habe ich dann getan. Dadurch ist unsere Freundschaft wieder aufgeblüht. Nun besuchen wir beide eine Europaschule, in der Schüler aus 80 Nationen lernen.
Ich war ergriffen und postete jeden Tag sehr viele politische Storys auf Instagram.
Doch der 7. Oktober veränderte vieles. Ich war sehr ergriffen und postete jeden Tag viele politische Storys auf Instagram. Sie und ich waren zunächst nicht in der Lage, über dieses Ereignis zu sprechen. Im Unterricht konnte ich mich kaum noch konzentrieren und fehlte auch ein paar Tage. Ich war geschockt über die schrecklichen Nachrichten und die Informationen über meinen großen Bekanntenkreis in Israel, aus dem nicht alle den Terrorangriff überlebt haben. Es hat uns schon sehr stark beeinflusst, in unserer Familie, in unserem täglichen Leben.
Erst Monate später konnten meine Freundin und ich richtig darüber sprechen. Wir hatten beide Zeit gebraucht, diese Ereignisse etwas zu verarbeiten. Aber unsere Freundschaft ist daran nicht zerbrochen. Jetzt können wir sachlich gut darüber reden und arbeiten gemeinsam an einem Vortrag, den wir zusammen halten werden. Mittlerweile haben wir schon Anfragen, ob wir andere Schulen besuchen könnten, um zu zeigen, dass muslimisch-jüdische Freundschaften funktionieren.
Die Urgroßeltern meiner Freundin wurden aus dem ehemaligen Palästina vertrieben und gingen in den Libanon, meine Großeltern hingegen flohen aus dem Jemen und kamen kurz nach der Staatsgründung Israels in das Land.
Lust auf etwas Neues
Vor knapp drei Jahren spürte ich, dass für mich die Luft an meinem Gymnasium in Kreuzberg raus war. Ich hatte Lust auf etwas Neues und wechselte die Schule. Ich würde auch sagen, dass ich an der Europaschule mehr lerne. Allerdings habe ich dort im Vergleich zu Kreuzberg mehr Antisemitismus erlebt.
Derzeit kommen gegen Israel gerichtete Schriftzüge an Toilettenwänden vor, ich erlebte einen Mob bei der Schweigeminute, die nach dem 7. Oktober abgehalten wurde. Außerdem tragen viele einen Palästinenserschal. Das löst bei mir nicht gerade positive Gefühle aus. Die Atmosphäre hat sich deutlich verändert, sie ist unangenehmer geworden.
Den Schulwechsel bereue ich allerdings nicht. Die meisten meiner Mitschülerinnen und Mitschüler wissen gar nicht, dass ich Jüdin bin. Ich fühle mich dort wohl. Andererseits ist es schon heftig, dass ich den Antisemitismus in Kauf nehmen muss, um meinen erwünschten geistigen Input zu bekommen.
In den vergangenen zwei Jahren hat sich mein Leben sehr verändert, denn ich bin in der jüdischen Community aktiver geworden. Vorher hatte ich noch mehr Zeit mit meinen beiden Geschwistern verbringen können, ich spielte Klavier, trieb Sport, vor allem Akrobatik. Und ich verbrachte viele Nachmittage und Abende mit meinen Freunden. Heute habe ich keine Zeit mehr für Hobbys.
Zum ersten Mal auf der Jewrovision
Im vergangenen Jahr fuhr ich zum ersten Mal auf die Jewrovision, die damals in Frankfurt stattfand. Aber ich performte nicht auf der Bühne, sondern war Madricha und betreute die Kinder, schaute, dass sie nicht allzu viel Unfug anstellten und irgendwann in ihren eigenen Betten lagen. Mit 17 hatte ich auch meine Madricha-Ausbildung angefangen, und nun freue ich mich, dass ich im Juze Olam eine eigene Gruppe leiten darf, es sind die Jüngsten, die Sechsjährigen. Ich bin eigentlich jeden Sonntag im Juze und verbringe Zeit mit den Chanichim während des Programms, das wir uns überlegen.
Ich bin eigentlich jeden Sonntag im Juze und verbringe Zeit mit den Chanichim.
Leider passiert es schon mal, dass etwas dazwischenkommt. Wie beispielsweise vor zwei Wochen die Jugendbegegnung vom Bundestag, zu der mein Tandempartner Venja von »Meet a Jew« und ich für vier Tage eingeladen waren. Am letzten Tag nahmen wir an der Holocaust-Gedenkstunde im Bundestag teil, um live die Ansprachen zu verfolgen. Während dieser weinten viele Abgeordnete. Eva Szepesi und Marcel Reifs Reden waren sehr emotional mit guten Bezügen zur Gegenwart.
Venja und ich waren die einzigen jüdischen Jugendlichen dort. Es hätten ruhig noch mehr von uns engagierten Jugendlichen eingeladen werden können. Wir konnten dort die heutige jüdische Perspektive bieten. Freiwillige bei »Meet a Jew«, wie Venja und ich, wollen auch bei Begegnungen mit Schülerinnen und Schülern zeigen, wie wir heute leben.
Nach dem Abi möchte ich reisen und mit Taglit nach Israel fliegen. Seit ich ein kleines Mädchen war, stand für mich fest, dass ich den Militärdienst absolvieren möchte. Das hatte für mich eine starke Bedeutung, da es die Soldatinnen und Soldaten extrem zusammenschweißt. Ich wollte mich zugehörig fühlen und fand auch, dass es ein wichtiger Schritt wäre für meine israelische Identität. Aber nun habe ich es mir aufgrund des Krieges anders überlegt. Ich werde das Privileg in Anspruch nehmen, in Deutschland zu bleiben. Ich würde gern Praktika im Bundestag machen und Politik studieren.
Eine riesige Familie
Mein Großvater aus Israel ist leider vor ein paar Jahren verstorben. Seitdem lebt meine Oma dort allein – aber da sie fünf Kinder hat, die wiederum Nachwuchs bekommen haben, sind wir eine riesige Familie. Ich habe 24 direkte Cousins.
Mein Vater arbeitete nach seinem Militärdienst in Israel beim Sicherheitsdienst in Berlin. Meine Mutter, die aus Bayern stammt, studierte an der Uni in Berlin Französisch und später Lehramt. Nachdem sie sich bei einer Reise kennengelernt hatten, wollte mein Vater in Deutschland bleiben und fing eine Ausbildung zum Fotografen an.
Mindestens zweimal im Jahr fliegen meine Geschwister, Eltern und ich nach Israel, was immer sehr schön ist. Ich vermisse meine Heimat Israel sehr. Dort würde ich gern öfter meinen Koffer abstellen.
Aufgezeichnet von Christine Schmitt