Positionen

Auf jeden Fall Tradition

Was bedeutet jungen Menschen ihr Judentum? Neun Antworten auf eine Frage

 06.08.2012 19:55 Uhr

Nicht ganz einfach: Die Frage nach ihrem Glauben beantworten junge Juden ganz unterschiedlich. Foto: (M) Frank Albinus

Was bedeutet jungen Menschen ihr Judentum? Neun Antworten auf eine Frage

 06.08.2012 19:55 Uhr

Alexander Stoler ist »stolz, Jude zu sein« und macht kein Geheimnis daraus. Auch wenn es deswegen schon so manche unangenehme Situationen gab. Mit dem Judentum fühlt sich der Student der Soziologie und Rechtswissenschaft, der von sich sagt, traditionell erzogen worden zu sein, vor allem kulturell verbunden. Anders als die Mutter, die regelmäßig in die Synagoge gehe, besuche er den Gottesdienst nur an Feiertagen, erzählt der Frankfurter. Und im Gegensatz zu seiner Mutter, die koscher esse und auch andere religiöse Gebote befolge, beschränke er sich nur darauf, kein Schweinefleisch zu essen.

Wenn Alexander nach seiner Identität gefragt wird, dann muss er nicht lange überlegen. »Ich bin Deutsch-Ukrainer mit jüdischer Religion«, erklärt er dann. Schwieriger fällt ihm hingegen die Antwort auf die Frage nach seinem Glauben. »Irgendwie«, sagt der 21-Jährige aus der Mainmetropole, »glaube ich schon an Gott und denke, dass es da oben etwas Allmächtiges gibt.« Aber Alexander zweifelt auch immer wieder – vor allem dann, wenn er sich vergegenwärtigt, dass im Nationalsozialismus Millionen von Juden ermordet wurden. Sein Großvater habe als Einziger von neun Geschwistern den Holocaust überlebt, berichtet der Student.

gottesbeweis Ganz anders als Alexander beschreibt sich Maxim Stepanko. »Ich glaube an Gott und zweifle nicht daran, dass es ihn gibt«, sagt er. Anders sei nicht zu erklären, warum das jüdische Volk noch existiere. Maxim, 25 Jahre alt und Student der Medientechnik in Köln, beschreibt sich als religiös. Sein Glaube sei in den vergangenen zwei, drei Jahren gewachsen, nämlich seitdem er sich intensiver mit seiner Religion beschäftige. »Mein Gottesglaube ist auch das Ergebnis meiner Erfahrungen.«

Das Verhältnis zur Religion ist in Maxims Familie keineswegs einheitlich. Seine beiden Schwestern, die eine 15 und die andere 35 Jahre alt, sind nicht religiös. Erst in Deutschland habe er die Möglichkeit bekommen, sich mit den unterschiedlichen Facetten der jüdischen Religion zu beschäftigen, sagt der junge Mann aus der Ukraine. Sein Glaube, das ist für Maxim einerseits das »Erbe meiner Vorväter«, andererseits aber auch Privatsache.

Lernt er neue Leute kennen, dann ist seine religiöse Zugehörigkeit nur dann ein Gesprächsthema, wenn er ausdrücklich darauf angesprochen wird, betont Maxim. Er bemühe sich darum, die religiösen Gebote zu befolgen. Er halte sich an die jüdischen Speisegesetze, begehe den Schabbat – mal mit der Familie, mal mit Freunden – und er gehe jeden Samstag in die Synagoge. »Ich bin traditionell«, betont Maxim, »aber nicht orthodox.«

prägung »Religion ist wichtig, durch Gott sind wir hier, er hat uns erschaffen.« Daran besteht für Orly kein Zweifel. Dass man Gott dankt, vor allem, wenn einem etwas Positives und Schönes widerfährt, das habe sie von ihren Eltern gelernt. Ihr Vater und ihre Mutter, die Zeit in der jüdischen Grundschule, und auch ihre Freunde haben ihr die Religion nähergebracht. »Unsere Familie trifft sich jeden Freitagabend zum Schabbat, wir gehen oft in die Synagoge.« Ihre Batmizwa hat sie in sehr guter Erinnerung, auch wenn sie damals kein rauschendes Fest, sondern einen Kiddusch gefeiert haben, aus Trauer, weil der Großvater im selben Jahr gestorben war.

Darüber, ob sie nur mit einem jüdischen Partner zusammenleben könnte, will sich die 17-Jährige jetzt noch keine Gedanken machen. Was allerdings keineswegs heißt, dass ihr ihre jüdische Identität nicht wichtig wäre. Auf der weiterführenden Schule war diese häufig Thema im Miteinander mit nichtjüdischen Schülern, und diese Auseinandersetzungen verliefen beileibe nicht immer angenehm und erfreulich: »Ich stehe eben zu dem, was ich bin, das war aber nicht immer leicht.« Mit der Vorstellung einer Auserwähltheit des jüdischen Volkes kann Orly indes wenig anfangen: »Man muss auf dem Teppich bleiben, auch als Jude.«

familie David kommt aus Hessen. In diesem Sommer hat der 15-Jährige Sprachferien in Großbritannien verbracht – bei einer nichtjüdischen Gastfamilie. »Das war kein Problem«, sagt der Jugendliche, denn mit Religion hat er nichts am Hut. Er findet, es macht das Leben leichter, wenn man nicht streng auf Glaubensregeln achten muss. »Ich kann zum Beispiel auch am Schabbat ausgehen und überall essen, ohne auf koschere Speisen achten zu müssen. Nur Schweinefleisch esse ich nicht. Das isst keiner in unserer Familie.«

Auch Davids Eltern sind nicht religiös und gehen kaum in die Synagoge. »Ich glaube, da gehen mehr die älteren Leute hin«, vermutet der Teenager. »Vielleicht interessiert mich das später auch einmal«, meint er versöhnlich. »Aber im Moment finde ich Religion nicht so spannend.«

verwandtschaft Davids fünf Jahre ältere Schwester Alice sieht das Thema differenzierter. Sie sei gerade dabei, Facetten des Judentums für sich zu entdecken, berichtet die Studentin. Mit dem Glauben an Gott habe das aber nichts zu tun, vielmehr mit Tradition: »Ich finde es einfach schade, wenn das ganz verloren geht. Irgendwann kann sich dann keiner mehr daran erinnern, was hinter den jüdischen Festtagen steht und wie man sie richtig begeht.« Sie fühlt sich als Jüdin, auch ohne gläubig zu sein. Immerhin habe es entscheidende Vorteile, aus einer jüdischen Familie zu stammen, meint Alice. »Man hat in vielen Ländern Verwandte. Das ist praktisch, wenn man gern reist.«

Ilja Kogan, Paläonthologe und Doktorand in Freiberg und Chemnitz, beantwortet die Frage nach der Existenz Gottes agnostisch: »Beides erscheint möglich. Allerdings«, so der 29-Jährige, »würde die Existenz Gottes eine einfache Erklärung für frappierende historische und gegenwärtige Phänomene liefern – wie die Kontinuität des jüdischen Volkes und die Existenz Israels.«

Iljas eher säkulare Grundhaltung hindert ihn nicht an vitalen Erfahrungen in jüdischen Gotteshäusern: »Wenn ich im Ausland bin, gehe ich immer gern in die Synagoge. Ich fühle mich dort sofort zu Hause, treffe auf Menschen mit ähnlicher Geschichte und vergleichbarem Hintergrund.«

Bildung Judentum hat für Ilja viel mit Bildung zu tun. »Wir sind das Volk des Buches. Streben nach Erkenntnis war schon immer wichtig, um die Dinge in dieser Welt besser zu verstehen. Ich bin sehr froh, daran teilzuhaben.« Pessach, Rosch Haschana und Jom Kippur sind Fixpunkte in Iljas jüdischem Kalender. Regelmäßig besucht er Kabbalat-Schabbat-Gottesdienste in der Wohnung eines befreundeten jüdischen Intellektuellen aus Moskau. »Hier ist es authentisch, allein schon durch die Art der Begegnung.« Er könne sich auch vorstellen, einen koscheren Haushalt zu führen. »Das würde mir nicht schwerfallen, zumal ich Vegetarier bin«, sagt Ilja.

Für Ruth Fischer aus Berlin spielt das Judentum allein durch ihr Studium der Jüdischen Studien in Potsdam eine gewichtige Rolle. »Mindestens fünfmal in der Woche begegnen mir jüdische Themen«, erklärt sie. Ihr Jüdischsein betrachtet sie auf keinen Fall nur als Privatsache. »Ich spreche gerne mit Menschen über meine Religion und Kultur«, bekennt Ruth, »und ich finde interreligiösen Austausch sehr wichtig.« Trotzdem trage sie keine Kette mit Davidstern oder ähnlicher jüdischer Symbolik. »Ich möchte mir schon aussuchen können, wann und vor wem ich mich als Jüdin präsentiere.«

Gemeinschaft Ruth ist in einer deutsch-israelischen Familie aufgewachsen, in der der koschere Haushalt eine Selbstverständlichkeit war. Intensive jüdische Gemeinschaft hat Ruth schon von Kindesbeinen an erlebt, unter anderem im Jugendzentrum der Gemeinde und an der Jüdischen Oberschule. Institutionen sind für sie aber nicht das Absolute. »Familie ist auch Gemeinschaft«, betont die 23-Jährige, »und die ist mir extrem wichtig. Es käme für mich nie infrage, alleine jüdische Feiertage zu feiern, das wäre irgendwie sehr traurig.« In der Freizeit und beim Studium interessieren Ruth auch jüdische Mystik und Kabbala. Ihren Kindern werde sie auf jeden Fall jüdische Tradition vermitteln. Über ihre Bar- oder Batmizwa sollten sie dann aber schon selbst entscheiden.

Meir Lisserman sagt, er stamme aus einer typischen russisch-jüdischen Familie: »Wir waren assimiliert, Religion hatte in unserem Leben keinen Platz. Das jüdische Gebot des lebenslangen Lernens hieß für uns, nicht die heiligen Schriften zu studieren, sondern sich akademisch und intellektuell zu bilden. Ich hatte Bestnoten überall«, sagt der 31-Jährige, »in der Schule und auch im Studium.« Deshalb fand er auch schnell einen Spitzenjob als Wirtschaftsinformatiker.

»Aber ich dachte die ganze Zeit: Partys, Urlaub, Autos, Mädchen – wenn das das Leben ist, dann ist es sinnlos!« Deshalb beschäftigte er sich mit der Frage : »Du bist doch Jude, was bedeutet das?« Er ging sogar für anderthalb Jahre nach Israel, in eine Jeschiwa, um eine Antwort darauf zu finden. Irgendwann wusste er: »Du musst dich entscheiden!« Und fasste den Entschluss, hier, in Deutschland, als religiöser Jude zu leben: »Das ist eine interessante Herausforderung, wie für andere, den Mount Everest zu besteigen.«

wertesystem Jude sein – für Meir Lisserman heißt das vor allem, auf ein jahrtausendealtes Wertesystem vertrauen zu können, das ihm Sicherheit in allen Lebensfragen gibt. »Die Tora ist göttlich. Wer die ganzen Details der Gesetze befolgt, wer nach diesem Ideal strebt, lernt, was Fairness ist. Und als Jude hast du zudem die Funktion, als moralisches Vorbild inspirierend auf andere zu wirken.«

An Gott zu glauben, ist nicht zwangsläufig mit religiös begründeten Handlungen verbunden: Das trifft für Romy Markovich zu. Ohne zu zögern, beantwortet die 17-Jährige die Frage, ob sie an Gott glaube, mit: »Ja«. Dann folgt eine Einschränkung: »Mein Glaube ist da, aber ich halte mich eher weniger an die Gebote.« Die religiösen Feste hingegen sind der Schülerin aus Frankfurt wichtig, an den Feiertagen geht sie zu den Gottesdiensten in die Synagoge.

Die Tochter eines Israelis und einer deutschen Jüdin berichtet davon, dass sie eine starke Bindung zu Israel habe und mit ihren Eltern zu Hause Hebräisch spreche. Das Judentum spiele in ihrem Alltag aber nicht eine so große Rolle. »Dass ich Jüdin bin, das sieht ja auch keiner.« Sie teile das aber durchaus mit, wenn es sich bei neuen Bekanntschaften ergebe. In der Schule sei das bekannt, berichtet die Gymnasiastin. Auch weil sie es nicht kommentarlos hinnehme, wenn mal ein blöder Spruch in Bezug auf Juden falle.

Zusammengestellt von Olaf Glöckner, Barbara Goldberg, Canan Topcu und Karin Vogelsberg.

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