Endlich wieder live: Musik, Gäste, Gespräche – nach zwei pandemiebedingten Pausen konnte die Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) in Stuttgart am Mittwoch vergangener Woche wieder zum Neujahrsempfang in den eigenen Gemeindesaal einladen und den Beginn des Jahres 5783 als großes gesellschaftliches Ereignis feiern.
Gemeinsam mit Abraham Lehrer, dem Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, und weiteren 220 Gästen aus Politik mit Vertretern von Landtag und Rathäusern, von Kirche und Religionsgemeinschaften, von Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft, die IRGW-Vorstandsvorsitzende Barbara Traub willkommen hieß: »Schalom, Schana Towa Umetuka, die besten Wünsche für ein gutes und süßes neues Jahr.«
jubiläen Zwei Jubiläen stachen in diesem Jahr aus Sicht der Gemeinde heraus: »1952, vor 70 Jahren, konnten wir als erste Gemeinde in der Bundesrepublik unsere neue Synagoge einweihen«, erinnerte Barbara Traub an diesen entscheidenden Schritt der Wiedergeburt jüdischen Lebens in Stuttgart. Leopold Goldschmidt vom Zentralrat der Juden in Deutschland habe seinerzeit das Gotteshaus zwar als einen Beweis gefeiert, dass die Geschichte des Judentums in Deutschland noch nicht zu Ende sei, dies aber mit wenig Zuversicht in die Zukunft nur als »Nachtrag« eingeordnet: »Man hatte sich auf die Aufgabe des Nachlassverwalters eingestellt«, betonte Traub.
Dass ihr bei ihrer Ankunft in Stuttgart 1990 als Willkommensgeschenk ein Buch über jüdische Friedhöfe überreicht wurde, sei symptomatisch gewesen. Doch 1992, vor 30 Jahren, wurde mit der Zuwanderung jüdischer Familien aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion ein neues Kapitel aufgeschlagen: »Wir sind seither zu den gemeinsamen Wurzeln unserer jüdischen Tradition zurückgekehrt, um unsere gemeinsame Zukunft hier in diesem Land aufzubauen«, hob Barbara Traub die Bemühungen und Erfolge der Integration und des Zusammenwachsens hervor.
Die Rückschau nahm Barbara Traub zum Anlass, dem Land Baden-Württemberg, der Stadt Stuttgart, den neun Kommunen, in denen IRGW-Zweigstellen etabliert wurden, und allen Freunden und Wegbegleitern für die Unterstützung zu danken. Genauso wie jenen, die »Gedenkstätten errichtet haben und sich aktiv gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben einsetzen«.
Herausforderung Nun bringe der Krieg, mit dem Putin die Ukraine überzieht, eine neue Herausforderung: »Unsere Gemeinde und ihre Mitglieder haben sich ihrer Verpflichtung gestellt und Geflüchtete bereits bei sich zu Hause aufgenommen, als man sich offiziell erst auf deren Ankunft einrichtete«, versicherte Traub und schilderte den engagierten Einsatz und den Umfang der Hilfeleistungen.
»Es ist Zeit, dass gehandelt wird. Denn hehre Versprechen allein machen nicht satt, sie heizen auch kein Wohnzimmer.«
Zentralratsvizepräsident Abraham Lehrer
Rebbetzin Nelly Pushkin habe vom ersten Tag an Geflüchtete in die Gemeinde geholt. Ihr Mann, Rabbiner Yehuda Pushkin, sei genau wie Rabbiner Shneur Trebnik in Ulm oft mitten in der Nacht unterwegs gewesen, um Ankommende in ihr Quartier zu bringen, Flüchtlingsbusse auf der Durchfahrt in Ulm mit warmen Mahlzeiten zu versorgen, Kontakte herzustellen und Hilfe zu vermitteln, wo immer sie nötig war.
Der Studierendenverband sammelte Hilfsgüter und übernahm die Transporte für und in die Ukraine. »Unsere Gemeinde wuchs in den vergangenen Monaten an vielen Stellen über sich hinaus«, stellte Traub fest. Denn die Zuwanderer würden die Gemeinschaft und das jüdische Leben auf allen Ebenen in einem zutiefst positiven Sinne prägen.
Zum Anstoßen auf das neue Jahr ging es in die Sukka.
»Ohne sie wäre das deutsche Judentum heute nicht das, was es ist«, bekräftigte Abraham Lehrer und forderte von Bund und Land den seit Langem versprochenen Härtefallfonds für Kontingentflüchtlinge. »Warum müssen wieder Tausende und Abertausende von Menschen sterben und Schoa-Überlebende mit 90 Jahren nochmals in einem fremden Land – dem Land der Täter von damals – ganz neu anfangen?«, ging auch Lehrer auf den Krieg ein. Seit Beginn des Krieges im Februar seien rund 25.000 russische Juden allein nach Israel ausgewandert, für jüdisches Leben gingen in Russland wohl bald die Lichter aus: »Putin ist der größte Antisemit nach Josef Stalin.«
documenta Den Antisemitismus in der Bundesrepublik klammerte Lehrer nicht aus und nannte die documenta einen »Schlag ins Gesicht der jüdischen Gemeinschaft«. Mehr noch als die Ressentiments und der Hass der indonesischen Künstler auf Israel und die Juden empöre der offenkundige Unwille der Verantwortlichen, sich klar und deutlich dagegen zu positionieren.
»Man kann Hass nicht verbieten, aber dafür sorgen, dass er sich nicht mehr lohnt«, kommentierte Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes, die traurige tägliche Erfahrung mit Rassismus und Antisemitismus. Die documenta und das vergangene Jahr, auf einer großen Videowand im Gemeindesaal als Kaleidoskop von Bildern durchs Jahr zu verfolgen, sei Schnee von gestern, setzte Lehrer schließlich auf die Zuversicht, die zum Neujahrsfest gehöre. Und da der Empfang inmitten von Sukkot stattfand, dem Fest, »an dem wir ausdrücklich fröhlich sein sollen«, so Traub, ging es zum Anstoßen in die Sukka.