Als ich im bayerisch-schwäbischen Günzburg aufwuchs, wusste ich lange Zeit nicht, wo mein Vater ist. Dieses Thema war für meine Mutter ein totales Tabu. Sie hat nicht darüber gesprochen, ich habe nicht nachgefragt. Aber dass es ihn irgendwo gab, habe ich intuitiv gespürt. Das lässt sich schwer beschreiben. Als ich 18 Jahre alt war, habe ich erfahren, dass er in Israel lebt. Seinen Namen kannte ich auch. Das lag daran, dass das Jugendamt damals bei unehelichen Kindern die halbe Vormundschaft übernommen hat.
Ich wurde an meinem 18. Geburtstag aufs Amtsgericht Günzburg einbestellt. Der Beamte sagte mir, dass ich auf Unterhalt klagen dürfe. Es kam zu einem Riesenstreit mit meiner Mutter. Es war das erste und einzige Gespräch, das wir jemals über meinen Vater geführt haben. Daraufhin verdrängte ich das Thema und schob es weit von mir weg.
kindheit Vermisst habe ich meinen Vater in der Kindheit ohnehin nicht. Mein Opa war eine wichtige Bezugsperson, und er hat ihn ganz gut ersetzt. Ich hatte eine behütete Kindheit, keine finanziellen Einschränkungen. Doch als meine Mutter im Jahr 2005 starb, kam das Thema plötzlich wieder auf den Tisch. Ich war 27, und der Gedanke kam in mir auf: Meine Mutter ist jetzt tot, aber ich habe ja noch einen Vater. Lebt er denn noch?
Ich musste das Haus ausräumen, in dem meine Mutter gelebt hatte. Dabei stieß ich im Keller im letzten Winkel auf eine kleine Tasche. Darin lagen ein Tagebuch aus den Jahren 1977/78, ein paar Briefe von meinem Vater, ein Foto von ihm und ein Prospekt vom Kibbuz. Dass sie es nie weggeworfen hat, sehe ich als Zeichen dafür, dass sie damit nicht abgeschlossen hatte.
Meine Großeltern gehörten 1937 zu den Gründerfamilien des Kibbuz Ginosar.
Für meine Mutter war das ein unabgeschlossenes Kapitel in ihrem Leben. Eine große Enttäuschung, ein Bruch. Sie reiste als junge Frau nach Israel. Schwanger zu werden, war nicht geplant. Die Beziehung, die die beiden geführt haben, war ein Sommerflirt. Zumindest für meinen Vater.
BRIEFE Als er von der Schwangerschaft erfuhr, sagte er, es passe ihm überhaupt nicht in sein Lebenskonzept. Rein rational kann ich das total verstehen. Er war 25, ist in der Enge des Kibbuz aufgewachsen und wollte in die Welt hinaus, auf Reisen gehen.
Später hat er es mir erklärt. Zunächst musste ich ihn aber finden. Als mir das Tagebuch in die Hände gefallen war, legte ich es erst einmal weg. Es war eine turbulente Zeit, ich musste den Tod meiner Mutter verarbeiten. Als das erste Chaos vorbei war, habe ich das Tagebuch und die Briefe gelesen.
Vermisst habe ich meinen Vater in der Kindheit ohnehin nicht. Mein Opa hat ihn ganz gut ersetzt.
Zu Silvester 2007/08 hatte ich den Impuls zu sagen: Jetzt fahre ich einfach hin. Ich wollte meinen Vater sehen. Ich wollte unbedingt an diesen Ort, weil meine Mutter das Kibbuzleben als wild und schön beschrieben hat. »Kleine orangegelb gestrichene Häuser, inmitten einer wunderbaren Landschaft gelegen. Palmen, Pinien, Eukalyptusbäume, Kakteen, blühende Stauden, Hunderte von Vögeln singen in den Bäumen. Unser Zimmer liegt 30 Meter vom See entfernt. Hier leben 30 bis 40 Volunteers. Inzwischen sind wir neun Deutsche.«
TANTE So beginnt ihre Erzählung. Das interessierte mich. Ohne große Vorbereitung buchte ich einen Flug und mietete mich im Kibbuz Ginosar für ein paar Nächte ein.
Im Kibbuz sprach ich auf Englisch einen alten Mann an und frage ihn nach der Familie meines Vaters. Er erinnerte sich sofort. Meine Großeltern gehörten 1937 zu den Gründerfamilien des Kibbuz. Er erzählte, dass eine Schwester meines Vaters heute im Management des Hotels arbeitet. Ich fand die Schwester, meine Tante.
Ich erzählte ihr von meiner Mutter, die ihren Bruder kannte. Sie sah mich an und verstand. Auch in dieser Familie gab es ein Tabuthema: das Kind in Deutschland. Sie nahm mich mit in ihr Haus und zeigte mir Fotos ihrer Familie. Meiner Familie. Fremde Menschen, die aussehen wie ich.
Schließlich traf ich meinen Vater in Jerusalem. Er zeigte großes Engagement. Das war überraschend für mich, da ich dachte, wenn ich ihn treffe, geht er eher auf Distanz. Doch im Gegenteil: Er war wahnsinnig herzlich, aufgeschlossen und zugewandt. Das war fast, als wäre es eine Erleichterung für ihn, dass ich endlich da bin und er den Schritt nicht machen muss.
Er hat es einfach nicht geschafft, mich oder meine Mutter zu kontaktieren.
Wenn ich ihm etwas übel nehme, dann die Tatsache, dass er es 30 Jahre nicht geschafft hat, sich zu melden. Er war zu feige. So hat er es mir auch erklärt. Er hat es einfach nicht geschafft, mich oder meine Mutter zu kontaktieren. Er wusste, dass er über meine Mutter gehen muss, um an mich heranzukommen. Das war ihm unangenehm.
BINDUNG Seit zehn Jahren haben wir nun engen Kontakt. Natürlich war es nicht immer harmonisch. Es kam zwischenzeitlich das Thema hoch, dass ich eine ganz andere Kindheit gehabt hätte, wäre mein Vater da gewesen. Ich hätte einen ganz anderen Bezug zu Israel gehabt. Dann bekam ich eine Krise und fragte mich, was ich eigentlich mit der ganzen Sache will. Ich war Anfang 30, da brauchte ich auch keinen Vater mehr. Doch wir überstanden es. Denn auf der anderen Seite war von Anfang an eine Bindung da. Wir haben uns gesehen und waren uns sofort sympathisch.
Wir sind uns vom Charakter sehr ähnlich. Ich habe etwas von den Genen vererbt bekommen. Mein Vater ist kein typisch lauter, sondern eher ein introvertierter Mensch und ganz sensibel. Er hat das Gespür, sofort zu merken, wie es einem geht.
Dieses ehrliche Interesse, das er wohl immer hatte, freute mich sehr. Die ersten paar Jahre haben wir viel geredet. Er wollte viel wissen – wie ich bin, was ich will im Leben, wie ich denke.
Heute habe ich ihm verziehen. Ich habe irgendwann gemerkt, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben, wenn ich ihm nicht verzeihe. Es gab dennoch immer wieder Momente, in denen ich überlegt habe: Was bringt mir der Kontakt? Wozu soll das führen?
Heute sehen wir uns ein- bis zweimal im Jahr. Wir skypen alle zwei Wochen. Den Kontakt zwischen meinem Vater und meinen Kindern stört aber die Sprachbarriere, weil mein Sohn noch kein Englisch spricht. Halbgeschwister habe ich nicht. Mein Vater hat außer mir keine Kinder, aber ich habe 23 Cousinen und Cousins. Das war eine große Umstellung, denn in Deutschland hatte ich nur eine kleine Familie.
Mit dem jüdischen Glauben habe ich trotz meiner Verbindungen nach Israel nicht viel Kontakt.
KLAGEMAUER Mit dem jüdischen Glauben habe ich trotz meiner Verbindungen nach Israel nicht viel Kontakt. Mein Vater ist sehr säkular. Er kam aus der Kibbuzbewegung, die in Teilen sogar antireligiös eingestellt war. Am Schabbat treffen sich seine Frau und ihre Kinder und Enkel aber mit ihm. Mit Israel und der jüdischen Kultur habe ich mich dennoch stark beschäftigt, seit ich meinen Vater gefunden habe. Das hat mir schon den Zugang eröffnet. Im katholischen Bayern hat Katholizismus in meiner Jugend eine große Rolle gespielt. Durch die Reisen nach Israel habe ich insgesamt ein besseres Verständnis für Glauben bekommen.
Das ist schon ein besonderes Gefühl, wenn man in Jerusalem an der Klagemauer steht oder sich auf dem Tempelberg befindet. Man versteht dann mehr, warum Glauben die Menschen so packt. Israel sehe ich als spirituelles Land mit allen Vor- und Nachteilen.
Als dann mein Sohn Viktor 2013 auf die Welt kam, war klar, dass ich unsere Familiengeschichte aufschreiben musste. Das war als privates Dokument gedacht. Ich fand die Geschichte meiner Eltern als Journalistin spannend und fand, man kann darin vieles über die jeweilige Zeit lernen.
VERANTWORTUNG Das so entstandene Buch fängt schon bei meinen Großeltern in den 20er- und 30er-Jahren an. Ich habe das Manuskript dann 30-mal drucken lassen und an Freunde und Familie verteilt. Die haben es dann weitergereicht.
Die Rückmeldung kam, dass es total spannend sei, und es tauchte öfter die Frage auf, warum ich es nicht veröffentliche. Da viele private Anekdoten darin vorkommen, überlegte ich lang hin und her, entschied dann aber, dass ich die Verantwortung für das Erbe trage, das meine Mutter mir hinterlassen hat. Würde sie noch leben, wäre mein Buch vermutlich nie erschienen.
Mein Vater hat es sich inzwischen per Google-Translator übersetzt und ebenfalls sein Okay gegeben. Das Manuskript geht nun in der ganzen israelischen Verwandtschaft herum.
Aufgezeichnet von Christian Ignatzi
Lisa Welzhofer, Kibbuzkind: Eine deutsch-israelische Familiengeschichte, Edition Chrismon, 14 Euro