Es fehlt der Dialog. Darauf kann man sich an diesem Tag einigen. Die »Denkfabrik Schalom Aleikum«, ein Projekt des Zentralrats der Juden für jüdisch-muslimischen Dialog, hat zur Fachtagung über Hass im Internet eingeladen. In drei verschiedenen Panels sollte am Donnerstag vergangener Woche in der W. Michael Blumenthal Akademie in Berlin über Antisemitismus, Rassismus, Veränderungen im digitalen Dialog nach dem 7. Oktober 2023 und den Umgang mit Hassrede in der Gesellschaft diskutiert werden. Der Titel der Veranstaltung war Programm: »Die Grenzen des Sagbaren«.
Immer wieder würden Gemeindemitglieder die »große Empathielosigkeit« ihres nichtjüdischen Umfelds beklagen, so Daniel Botmann, der Geschäftsführer des Zentralrats der Juden. Das Publikum stimmt ihm zu. Eine Besucherin berichtet, sie sei von Brandenburg in die Hauptstadt gezogen, weil sie das Schweigen nicht mehr ertragen habe. In Berlin sei es zwar nicht unbedingt besser, aber es gebe wenigstens die Jüdische Gemeinde: »Das gibt Sicherheit.« An der Fachtagung nehme sie teil, um sich mit anderen zu vernetzen.
»Am Ende sind es immer die Betroffenen, die die Ärmel hochkrempeln müssen«
Derviş Hızarcı von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) bringt das Gefühl, das durch den Raum geht, auf den Punkt: »Am Ende sind es immer die Betroffenen, die die Ärmel hochkrempeln müssen.«
Vernetzung und die Suche nach Dialog war für viele der Grund ihrer Teilnahme. »Häufig ist die Antwort auf Antisemitismus Rassismus«, sagt ein Besucher, der extra aus Mainz angereist war und von Rassismus betroffen sei. Ein anderer berichtet von einer polarisierten Debatte, bei der die Fronten so verhärtet seien, dass ein Austausch nicht mehr möglich wäre. Er selbst arbeite mit vorwiegend migrantischen Jugendlichen in der Neuköllner Sonnenallee. Auch er kam, um sich mit anderen auszutauschen.
Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen Museums Berlin, befürchtet, viele würden sich selbst zensieren und Allianzen scheuen. Sie wünscht sich mehr Offenheit und den Versuch, verschiedene Meinungen auf ein Podium zu bringen. Hızarcı pflichtet dem bei: »Wir müssen aktiver und bewusster Dinge dulden.« Er betont das wachsende rechte Potenzial, das es für sich zu nutzen wisse, sobald man in einer Gesellschaft nicht mehr aufeinander zugehe.
Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der Technischen Universität Berlin forscht zu Antisemitismus im Internet. Im Zuge des 7. Oktober habe sie einen »Dammbruch« beobachtet. Aber: »Dieser Damm hatte vorher schon so erhebliche Löcher und Risse.« Dementsprechend sei sie nicht gänzlich überrascht gewesen über den Ausbruch des Antisemitismus seitdem. Das Ausmaß habe auch sie allerdings geschockt.
»Echo der Vergangenheit«
Antisemitismus bezeichnet sie als »Echo der Vergangenheit«. Wie ein Chamäleon passe sich dieser seiner jeweiligen Zeit zwar an, es bleibe jedoch bei den immergleichen antisemitischen Denkmustern, die im kollektiven Bewusstsein tradiert seien. Schwarz-Friesel spricht daher von einer 2000-jährigen Kontinuität. »Antisemiten sind nicht innovativ. Ihnen fällt nichts Neues ein.«
Seit dem 7. Oktober sind laut Schwarz-Friesel vor allem Kontextualisierung und Schuldzuweisung besonders auffallend. Als Beispiel zitiert sie den Historiker Uffa Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin. In einem Interview mit dem SWR sagte er demnach: »Andererseits stimmt es, dass die Angriffe der Hamas nicht ohne den Kontext der israelischen Politik gegenüber den Palästinensern verstanden werden können.«
Neu sei die Eskalation der Gewalt außerhalb des Internets.
Als weiteres Beispiel dient Schwarz-Friesel ein Posting der UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, Francesca Albanese, auf der Plattform X, vormals Twitter: »Die Opfer vom 7.10. wurden nicht ermordet, weil sie Juden waren, sondern als Reaktion auf die Unterdrückung durch Israel.« Und die Philosophin Judith Butler verklärt das antisemitische Massaker als »Aufstand« und »bewaffneten Widerstand«.
Schwarz-Friesel bezeichnet das als »Strategie der Erklärung«, mit der man letztlich aber sage, Jüdinnen und Juden hätten die Gewalt, die ihnen angetan wird, selbst provoziert. In einem Instagram-Beitrag von »marx21.de« wird den Besucherinnen und Besuchern des Nova-Festivals zudem jegliche Empathie verweigert: »Unsere Kinder feiern keine Festivals nahe einem Militärstützpunkt in besetztem, fremdem Land unweit eines Aussichtspunktes, von wo aus Siedler seit Jahren die Bombardierung von Gaza mit anschauen und dabei jubeln.« Dieser Logik zufolge sind die Opfer selbst schuld daran, dass die Hamas sie vergewaltigt, ermordet und entführt hat.
»Das Gerücht über die Juden«
Über alldem schwebe die De-Realisierung, so die Expertin Schwarz-Friesel, also eine verfremdete Wahrnehmung tatsächlicher Ereignisse. Der Gesellschaftskritiker Theodor W. Adorno brachte so etwas auf die Formel »das Gerücht über die Juden«. In der Folge gelten Jüdinnen und Juden als der Ursprung alles Bösen. Daran zeige sich, dass der israelbezogene Antisemitismus, die derzeit höchst frequentierte Form des Antisemitismus, sich aus der klassischen Judenfeindschaft speise.
Was damals für Jüdinnen und Juden galt, gelte heute deckungsgleich für Israel als Jude unter den Staaten. Dafür habe es nicht erst den 7. Oktober benötigt. Schwarz-Friesel betont, dass israelbezogener Antisemitismus kein politisches Phänomen sei, das auf den Konflikt zwischen Israel und Gaza zurückgehe. Selbst bei unpolitischen Ereignissen wie den großen Waldbränden 2010 habe sich das gleiche obsessive Verhalten und eine Empathieverweigerung gegenüber den betroffenen Israelis gezeigt.
Neu sei hingegen die Eskalation der Gewalt außerhalb des Internets. Die Zahlen des jüngsten Jahresberichts der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) geben ihr recht. 4782 antisemitische Vorfälle zählte die Meldestelle 2023 und damit einen Anstieg von 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. 2787 waren es seit dem 7. Oktober bis zum Jahresende, damit fielen über 58 Prozent aller Vorfälle des Jahres in diese letzten drei Monate.
Daniel Botmann betonte bei der Vorstellung des RIAS-Berichts, dass die Ereignisse um und nach dem 7. Oktober eine tiefe Zäsur für die jüdische Gemeinschaft in Deutschland markieren. »Jüdinnen und Juden erleben den öffentlichen Raum als zunehmend unsicher und haben vielfach Angst, sich als jüdisch zu erkennen zu geben.«
Sorge bereite vielen auch die Frage, »ob in Zukunft ein freies und sicheres Leben als Juden in Deutschland möglich sein wird«.