Es fehlt der Dialog. Darauf kann man sich an diesem Tag einigen. Die Denkfabrik Schalom Aleikum, ein Projekt des Zentralrates der Juden, das sich mit dem jüdisch-muslimischen Dialog befasst, hat zur Fachtagung über Hass im Internet eingeladen.
In drei verschiedenen Panels sollte am 27. Juni über Antisemitismus, Rassismus, Veränderungen im digitalen Dialog nach dem 7. Oktober und den Umgang mit Hassrede in der Gesellschaft aufgeklärt und diskutiert werden. Recht bald war der Titel der Veranstaltung Programm: »Die Grenzen des Sagbaren«.
Daniel Botmann beklagt die »große Empathielosigkeit«.
Gesagt wird vieles – und auch nichts. Und beides wirkt. Die Reaktionen auf den 7. Oktober beweisen das. Immer wieder würden Gemeindemitglieder die »große Empathielosigkeit« ihres nicht-jüdischen Umfelds beklagen, so Daniel Botmann vom Zentralrat der Juden. Und das Publikum stimmt ihm zu. Eine Besucherin berichtet, sie sei vom Land Brandenburg in die Hauptstadt gezogen, weil sie das Schweigen nicht mehr ertragen habe. In Berlin sei es zwar nicht unbedingt besser, aber es gebe wenigstens die Jüdische Gemeinde: »Das gibt Sicherheit.«
An der Fachtagung nehme sie teil, um sich mit anderen zu vernetzen. Derviş Hızarcı von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus bringt das Gefühl, das durch den Raum geht, auf den Punkt: »Am Ende sind es immer die Betroffenen, die die Ärmel hochkrempeln müssen.«
Vernetzung und die Suche nach Dialog war für viele der Grund ihrer Teilnahme. »Häufig ist die Antwort auf Antisemitismus Rassismus«, sagt ein Besucher, der extra aus Mainz angereist und selbst von Rassismus betroffen sei. Bei dieser Tagung werde beides mitgedacht. Das fehle ihm meist. Ein anderer berichtet von einer polarisierten Debatte, bei der die Fronten so verhärtet seien, dass ein Austausch nicht mehr möglich wäre. Er selbst arbeite mit vorwiegend migrantischen Jugendlichen in der Neuköllner Sonnenallee. Auch er kam, um sich mit anderen auszutauschen.
Hetty Berg wünscht sich mehr Offenheit.
Hetty Berg, Direktorin des Jüdischen Museums, befürchtet, viele würden sich selbst zensieren und Allianzen scheuen. Sie wünscht sich mehr Offenheit und den Versuch verschiedene Meinungen auf ein Podium zu bringen. Hızarcı pflichtet dem bei: »Wir müssen aktiver und bewusster Dinge dulden.« Er betont das wachsende rechte Potenzial, das es für sich zu nutzen wisse, sobald man in einer Gesellschaft nicht mehr aufeinander zugehe.
Die Antisemitismusforscherin Monika Schwarz-Friesel von der Technischen Universität Berlin forscht zu Antisemitismus und Sprache im Internet. Mit dem 7. Oktober habe sie einen »Dammbruch« beobachtet. Aber: »Dieser Damm hatte vorher schon so erhebliche Löcher und Risse.« Dementsprechend sei sie nicht gänzlich überrascht gewesen über den Ausbruch des Antisemitismus seitdem. Das Ausmaß habe sie allerdings geschockt.
Antisemitismus bezeichnet sie als »Echo der Vergangenheit«. »Antisemiten sind nicht innovativ«, so Schwarz-Friesel. Sie spricht von einer 2000-jährigen Kontinuität. Die Eruption des Hasses basiere auch diesmal wieder auf den alten Mustern, die reproduziert werden. Der israelbezogene Antisemitismus, der die derzeit am häufigsten auftretende Form des Antisemitismus darstellt – auch wenn das noch immer mit Vorliebe geleugnet wird, beweisen das sowohl die Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) als auch Korpus-Analysen der vergangenen 20 Jahre – speise sich aus der klassischen Judenfeindschaft. Die beiden seien aus diesem Grund nicht voneinander zu trennen.
4782 antisemitische Vorfälle 2023
Der Dammbruch zeige sich vor allem darin, dass der Hass die digitale Welt verlassen habe. Auch hier geben ihr die Zahlen von Rias recht. 4782 antisemitische Vorfälle zählte die Meldestelle 2023 und damit einen Anstieg von 83 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Der heftige Anstieg ist demnach auf antisemitische Vorfälle nach dem 7. Oktober zurückzuführen: 2787 waren es seitdem bis zum Jahresende, damit fielen über 58 Prozent aller Vorfälle des Jahres in dessen letzte drei Monate.
Im weiteren Verlauf des Tages kamen die Teilnehmer in Workshops zusammen, in denen es etwa darum ging, Antisemitismus und Rassismus im Internet zu erkennen. Zum Schluss tauschten sich Ali Ghandour, vom Zentrum für Islamische Theologie der Universität Münster, die Präsidentin der Jüdischen Studierenden Union, Hanna Vieler, und Holger Marcks von der Bundearbeitsgemeinschaft »Gegen Hass im Netz« über Handlungsoptionen gegen Hass im Netz aus.
Lesen Sie dazu mehr in der kommenden Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen.