In dem Kellergewölbe ist es angenehm kühl. Eine Wohltat für die 30 jungen Menschen, die eben noch durch die sengende Hitze von Sefad liefen. Nun sitzen sie in Reihen auf Holzstühlen und klatschen oder spielen auf kleinen Schlaginstrumenten zu dem Takt, den ihnen ein Mann mit langem Vollbart, wilden Schläfenlocken und breitmaschiger Kippa vorgibt.
»Musik soll einen fröhlich, nicht traurig machen«, sagt Aviv, der Kursleiter, lächelnd. Abwechselnd spielt er die Maultrommel, bläst in das Horn einer Antilope oder singt mit seiner kraftvollen, tiefen Stimme. »Baruch Haschem, Baruch Haschem«, hallt es durch den Raum – Gelobt sei der Herr.
Unter denen, die in den rituellen Singsang einstimmen, ist Tetyana Druzhkevych. Der Besuch bei den Ultraorthodoxen von Sefad macht auf die 28-Jährige einen tiefen Eindruck: »Die Ideen der Kabbala sind faszinierend!« Gebannt liest Tetyana kurz vor dem Konzert die im Innenhof des religiösen Zentrums »Ascent« ausgehangenen Plakate: »Kabbala und Wissenschaft« oder »Kabbala und ich« lauten die Überschriften. Noch Tage später wird sie begeistert von der Geheimlehre und dem Prinzip von Tikkun Olam, der Heilung der Welt, sprechen.
judentum Dabei hatte Tetyana zuvor mit dem Judentum wenig zu tun, und es ist das erste Mal, dass sie in Israel ist. Mit 29 anderen jungen Jüdinnen und Juden im Alter zwischen 27 und 33 Jahren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz bereiste sie für zehn Tage das kleine Land am Mittelmeer.
Die Idee von Taglit: Alle jungen Juden auf der Welt sollen einmal im Leben die Chance bekommen, Israel kennenzulernen.
Möglich machte ihr das »Taglit«, Hebräisch für »entdecken«. Die Idee des Programms: Alle jungen Juden auf der Welt sollen einmal im Leben die Chance bekommen, Israel und ihre jüdischen Wurzeln kennenzulernen. Finanziert werden die Reisen von privaten Philanthropen, dem Staat Israel sowie hierzulande vom Zentralrat der Juden und der Zentralwohlfahrtstelle der Juden (ZWST). Seit der Gründung von Taglit 1999 haben bereits 700.000 Menschen dieses Angebot angenommen, 55.000 davon aus Deutschland.
Sehnsucht »Die Mutter meines Vaters ist jüdisch, sie hieß Schapiro«, erzählt Tetyana. Ihre Familie stammt aus Kiew und kam nach dem Ende der Sowjetunion nach Deutschland. Zwar spielte sie als Kind in der jüdischen Gemeinde von Kassel im Theater mit, meistens waren in ihrem Alltag die jüdischen Riten und Feste jedoch kaum präsent.
In Frankfurt, wo sie heute wohnt, hat sie wenige Berührungspunkte mit der jüdischen Gemeinde. »Dennoch habe ich immer eine Verbindung und eine Sehnsucht nach dem Judentum gespürt«, sagt sie. Als ihr Verwandte aus der Ukraine von dem Programm Taglit und der Möglichkeit einer kostenlosen Israel-Reise erzählten, zögert sie nicht und bewirbt sich umgehend.
SICHERHEIT Im September war es dann so weit: Nach viereinhalb Stunden Flug waren Tetyana und ihre Mitreisenden aus dem herbstlichen Frankfurt am Main im immer noch warmen Tel Aviv angekommen. Während die beiden Madrichot Sharon und Lisa schon in Deutschland mit in den Flieger gestiegen sind, stoßen der Tour-Guide Andreas, der Busfahrer Kassem und die ausgebildete Soldatin Hagar, die während der Reise für die Sicherheit zuständig ist, in Israel dazu.
Die insgesamt 34 Personen – für einige Tage begleitet von drei jungen Israelis – werden nun anderthalb Wochen miteinander verbringen und, so wird es sich für die meisten von ihnen anfühlen, eine Art Schicksalsgemeinschaft bilden. Von der nördlichen Grenze Israels bis hinunter in die Wüste werden sie gemeinsam das Land bereisen und dabei nicht nur jede Menge über die Geschichte des jüdischen Volkes und Staates lernen, sondern auch über ihre eigene und die ihrer Familien.
Bei einem Workshop über jüdische Identität am zweiten Abend zeigt sich, wie unterschiedlich die Voraussetzungen sind, die die Teilnehmer mitbringen.
Dabei werden sich Aktivitäten wie Wildwasser-Rafting auf dem Jordan mit ernsteren Inhalten, wie Workshops über israelische Politik oder der Besuch archäologischer Stätten wie auf dem Felsplateau Masada, die Waage halten. So soll eine »transformative und immersive« Erfahrung entstehen und »ein Fundament für eine dauerhafte jüdische Verbindung« zwischen Israel und Juden auf der ganzen Welt geschaffen werden, wie es auf der Website von Taglit heißt.
Die erste Station der Gruppe ist die Stadt Akko, die geprägt ist von ihrer gut erhaltenen spätmittelalterlichen Altstadt und der gemischt jüdisch-arabischen Bevölkerung. So vielfältig wie Akko sind auch die Taglitniks selbst, die hier ihr Israel-Abenteuer beginnen. Bei einem Workshop über jüdische Identität am zweiten Abend zeigt sich, wie unterschiedlich die Bedingungen sind, die die Teilnehmer mitbringen. Einige hatten bisher keinerlei Bezug zu Israel, andere haben sogar Familie im Land. Etwa die Hälfte von ihnen ist bisher mit dem Judentum kaum in Kontakt gekommen, weil dieser Teil ihrer Familiengeschichte verloren gegangen ist oder durch die Schoa gewaltsam abgeschnitten wurde. Für andere Teilnehmer ist ihr Jüdischsein selbstverständlich, gehören Gottesdienst und Feiertage zu ihrem Alltag.
verbindung Das gilt auch für Roy Zvi Can Sidiropoulos. »Als Kind habe ich von meiner Mutter Hebräisch gelernt und bin mit meinem Vater häufig in die Synagoge gegangen«, erzählt er. Das Judentum nimmt in Roys Familie einen wichtigen Platz ein, doch bis zu der Taglit-Reise ist der 27-Jährige aus Hamburg noch nie in Israel gewesen. Dabei hat er immer eine starke Verbindung zu dem Land gespürt. »In allen unseren Gebeten geht es um Israel und Jerusalem«, sagt er. Über einen YouTube-Kanal über jüdische Geschichte sei er auf Taglit gestoßen. »Das war für mich die Möglichkeit, Israel endlich zu besuchen.«
Als die Gruppe am fünften Tag ihrer Reise vor der Kotel in Jerusalem steht, geht für Roy ein Traum in Erfüllung. Tief bewegt nähert er sich der Mauer, die einstmals den Westteil des Tempels von Jerusalem bildete. »Es gibt keinen Ort, der vergleichbar ist«, findet er. An diesem Sehnsuchtsort von Juden auf der ganzen Welt zu beten, sei für ihn ein »surrealer Moment« gewesen, wird er später sagen. »Man kann es nicht in Worte fassen.«
Die weißen Klippen von Rosch Hanikra, die gemeinsame Zeit am Strand, das Kamelreiten in der Wüste – das alles habe er sehr genossen, meint Roy. Doch Jerusalem war für ihn der bedeutsamste Teil der Reise. Und noch ein weiterer Programmpunkt in der Stadt hat Roy besonders berührt: der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem.
Es ist vielleicht der emotionalste Abschnitt der zehn Tage – die Auseinandersetzung mit der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten.
Es ist vielleicht der emotionalste Abschnitt der zehn Tage – die Auseinandersetzung mit der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nationalsozialisten. Am Abend, bevor die Taglitniks nach Yad Vashem gehen, kommen sie in vertraulicher Runde zusammen. Einige von ihnen erzählen von ihren Verwandten, die von den Nazis verfolgt wurden, die hungern mussten und teilweise ermordet wurden.
Herkunft Die Großmutter von Lukas M., der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen will, hat überlebt. Wie genau, weiß er nicht. Nur dass sie jüdisch war, aus Amsterdam kommt und sich zusammen mit ihrer Mutter vermutlich in Frankreich versteckt hat.
»Dass ich nach den jüdischen Religionsgesetzen Jude bin, war mir lange gar nicht klar«, erzählt Lukas. Seine Mutter habe nur selten über ihre Herkunft und über die Schoa gesprochen. Erst eine jüdische Freundin machte Lukas darauf aufmerksam, dass er Jude sei und damit auch an Taglit teilnehmen könne. Doch ihm kamen Zweifel: »Bin ich dafür jüdisch genug?«, fragte er sich. »Kann man Jude sein, ohne religiös zu leben?«
Doch die Frage, welche Rolle das Jüdische in seinem Leben spielt, ließ ihn nicht los, und er entschloss sich, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und nach Israel zu reisen. »Hier wird mir von allen erzählt, das sei auch mein Land und meine Geschichte, und wir gehören alle zu einer Familie«, zeigt sich Lukas etwas irritiert. Ein kleiner Flecken im Nahen Osten soll also seine Heimat sein? Nicht alles, was er während der Reise zu hören bekommt, findet er plausibel. Und er hat Kritik an dem Programm: »Über den Konflikt mit den Palästinensern haben wir kaum gesprochen.«
Dennoch würde er sich als Zionist sehen, sagt der 30-Jährige. »Ich bin überzeugt, dass Israel eine Existenzberechtigung hat.« Das Land, da ist er sich sicher, wäre bei wachsendem Antisemitismus in Europa auch für ihn eine Lebensversicherung. Er sei sehr dankbar, dass Taglit ihm zehn Tage in Israel ermöglicht hat – und die gehen für ihn wie für die anderen Teilnehmenden irgendwann zu Ende.
alltag Die letzten beiden Tage verbringt die Gruppe in Tel Aviv, einer modernen, pulsierenden Metropole. Wem Akko zu klein, Jerusalem zu streng und die Wüste zu trist war, kommt spätestens hier auf seine Kosten. Doch nach und nach stellt sich ein Gefühl der Wehmut ein – der Abschied naht. Nicht wenige Tränen kullern, als die Taglitniks noch einmal für eine Abschlussrunde im Park vor dem Hotel zusammenkommen. Nur zehn Tage hat es gebraucht, um 30 fremde Menschen zu einer eingeschworenen Gruppe zu machen.
Auch in den Tagen nach der Rückkehr nach Deutschland bleiben sie miteinander in Kontakt.
Auch in den Tagen nach der Rückkehr nach Deutschland wollen sie nicht voneinander ablassen. In der gemeinsamen WhatsApp-Gruppe schreiben sie sich ohne Unterlass. Die Frage, die sich viele von ihnen nun stellen, lautet: Wie kann ich das Erlebte und Erlernte in meinen Alltag integrieren?
Tetyana hat sich bereits am Tag nach Taglit einige Hörbücher über jüdische Religion und Mystik besorgt. »Ich will jetzt für mich herausfinden, wie jüdisch ich leben will«, sagt sie. Auch einen Beratungstermin für einen Hebräisch-Kurs in Israel hat sie. Sie könne sich durchaus vorstellen, für längere Zeit in das Land zurückzukehren. Roy hat schon vor Taglit mit dem Gedanken gespielt, nach Israel auszuwandern. »Der Wunsch ist noch stärker geworden«, sagt er heute. Seine Familie wolle er allerdings nicht in Hamburg zurücklassen. Sein Traum: »Dass meine Kinder in Israel geboren werden.«
Lukas hat nach seiner Rückkehr weiter über seine jüdische Familie recherchiert und dabei einiges Neues erfahren, etwa, dass zwei seiner Ururgroßeltern in Sobibor ermordet wurden. Das Viertel in Frankfurt am Main, in dem er wohnt, nimmt er heute mit anderen Augen wahr. »Bei einem Spaziergang zur Synagoge habe ich 21 Stolpersteine gezählt«, berichtet er. Warum er ausgerechnet zur Synagoge gegangen ist, kann er nicht genau sagen. »Das war keine rationale Entscheidung.« Ob er sich vorstellen kann, einmal hineinzugehen? »Ja, auf jeden Fall.«
Der Autor war im September 2022 Teilnehmer der Taglit-Reise. Mehr Informationen zu dem Programm unter www.birthrightisrael.com