Still war sie, fröhlich, interessiert und eine gute Freundin. »Sie konnte fünf Sprachen.« Noch immer sagt Maria Antonia Gonzales Cabezas diesen Satz mit staunenden Augen. Die 82-jährige Dame mit den grau-melierten, zum Zopf gebundenen Locken war Ruths Freundin, damals in Chile. Ruth nahm Maria Antonia nach Berlin – in Hofpausen, auf Klassenfahrten, wann immer es ging, erzählte sie Maria von der großen Stadt in Europa, aus der sie mit ihren Eltern als eineinhalbjähriges Kind vor den Nationalsozialisten fliehen musste.
So intensiv waren Ruths Schilderungen – die Berlin selbst nie gesehen hatte –, dass Maria Antonia schon bald fast jede Ecke der Stadt kannte. Vielleicht auch das Haus am Kurfürstendamm 177 im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, in dem die Familie Grünberg wohnte und vor dem am Montagvormittag drei Stolpersteine verlegt worden sind.
Diskussionsbedarf Drei von insgesamt 22, die an diesem Vormittag in den Asphalt eingesetzt wurden. Das Besondere dabei: Es sind Gedenksteine, die an Schoa-Überlebende erinnern. Bislang wurden die zehn mal zehn Zentimeter großen Quadrate laut der Initiative Stolpersteine eher selten für Überlebende gelegt. Der überwiegende Teil galt Deportierten und während der Schoa ermordeten Menschen. Es gibt allerdings Diskussion in und zwischen den einzelnen Initiativen und Demnig um das Verlegen der Stolpersteine für Schoa-Überlebende.
»Wir möchten unsere Gedenk- und Erinnerungsarbeit auf die Deportierten und Ermordeten konzentieren, die keine Gräber haben«, betont Helmut Lölhöffel von der Initiative Stolpersteine im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf. Stolpersteine für Überlebende der Schoa würden allerdings auch gelegt, um die Familiengeschichte zu dokumentieren, unterstreicht der Journalist. »Wir wollen nicht das Projekt von Gunter Demnig stören, wir wollen, dass es weiterläuft«, sagte er der Zeitung.
Projekt Der Erfinder der Stolpersteine, Gunter Demnig, kann Kritik am Setzen der Stolperstene für Schoa-Überlebendenicht nachvollziehen. Bei der Verlegung von Stolpersteinen sollte nicht nach »erster und zweiter Klasse unterschieden« werden, betont er im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Er stehe in gutem Kontakt zu den Initiativen, aber diese hätten »nicht das Recht, in mein Projekt reinzureden«. »Es ist immer noch meine Grundidee«, sagt Demnig. Es mache doch mehr Sinn, eine Familiengeschichte zu dokumentieren, findet der Kölner Künstler.
So wie bei den Grünbaums. Die Familie, die über Belgien, Spanien, die Schweiz letztendlich mithilfe eines Visums nach Chile gehen kann, beginnt in Südamerika ein neues Leben. Ruth Clara Grünberg macht gemeinsam mit Maria Antonia das Abitur. Maria studiert, Ruth arbeitet bei einer Export-Importfirma. Beide bekommen Kinder. In den 70er-Jahren muss Maria Chile nach dem Putsch verlassen und emigriert in die DDR.
Hausaufgabe Ruth bleibt und stirbt 1989. Dass die Familiengeschichte in diesem Umfang aufgedeckt wurde, verdankte sich einer einfachen Hausaufgabe an der Heinz-Galinski-Grundschule vor vier Jahren, erzählt André Poser, der das Projekt rund um Ruths und Marias Geschichte initiiert hat. Ein Schüler las das Gedicht »Ruth« vor, das Maria für ihre Freundin geschrieben hatte. »Wie schön wäre gewesen/In den engen Straßen zu spielen/In jenem Innenhof, mit Bäumen,/ Die über Ziegeldächer hinausragen«, lauten die ersten Zeilen des Gedichts. Am Montagvormittag las es Marias Enkel Maurico vor. Ihn habe das Gedicht seiner Großmutter sehr berührt, gibt der 12-Jährige etwas schüchtern zu.
Dass ihr Enkel Ruths Erinnerungen vorgetragen hat, war für Maria Antonia ein ganz besonderer Moment. Fast so, »als wenn Ruth dabei gewesen wäre«, sagt sie. »Ich habe Berlin so geschildert, wie Ruth es mit erzählt hat«, berichtet Maria. »Ihre Erinnerungen habe ich mitgenommen.« Am Kurfürstendamm 177 erinnern nun drei Stolpersteine an die Familie Grünberg.
Gute fünf Kilometer weiter südlich, in der Stierstraße in Friedenau, gibt es neben den Stolpersteinen auch eine Stolperschwelle vor einer ehemaligen Synagoge, die an das Schicksal der Juden während der Schoa im Stadtteil Schöneberg erinnert. Am vergangenen Mittwochnachmittag sind auch dort in Anwesenheit von etwa 100 Menschen drei Gedenksteine mit den Namen von drei Jüdinnen, die unabhängig voneinander die Zeit im Untergrund überlebt haben, gelegt worden.
Schon seit einigen Jahren werden Gedenksteine für Überlebende verlegt, erzählt Petra Fritsche, Mitglied der »Initiative Stolpersteine Stierstraße«. In einem Interview sagte Fritsche, dass sie innerhalb der Gruppe auch über das Thema Gedenksteine für Überlebende »nicht immer einvernehmlich« diskutiert haben, sie allerdings zu dem Schluss gekommen seien, dass man darin kein Problem sehe.
Stierstraße Doch es gibt andere Gegner des Engagements. Sie nennen sich Anti-Stolpersteinprojekt und haben die Einladungen zu der Aktion am vergangenen Mittwoch, die an einigen Haustüren hingen, abgerissen und mit einem anonymen Pamphlet in Fritsches Briefkasten geworfen. Daher beschützte die Polizei das Gedenken, so Fritsche. Die Stolpersteine in der Stierstraße wurden zum Beispiel für die verwitwete Elfriede Friedemann und ihre Tochter Susanne gelegt, die in einer Sechs-Zimmer-Wohnung in einer Villa in der Stierstraße gewohnt hatten, bis sie beschlossen, unterzutauchen.
Bis zu ihrem Tod lebte Friedemann, die Tante des Historikers Julius H. Schoeps, bei dessen Familie in Erlangen, wo sie 92-jährig verstarb. Lange Zeit wusste Elfriede Friedemann nicht, dass auch ihre Tochter es geschafft hatte, am Leben zu bleiben. Susanne Friedemann hatte einen Helfer, der sie in Kladow in einem Bootshaus versteckt hatte.
Nach dem Krieg heiratete sie ihn und nahm seinen Namen von Schüching an. »Aus der Straße ist aufgrund der Steine und der Stolperschwelle mittlerweile ein Ort geworden, der davon zeugt, was unsere Geschichte ist und wie wir der Opfer gedenken«, meint Petra Fritsche. Trotz der Widerstände und Schwierigkeiten wird die Gruppe weiterhin aktiv bleiben und Biografien ihrer ehemaligen Bewohner erforschen.