Neujahr

Auf dass es jeder hört

Foto: Getty Images

Ist es möglich, auf dieses Jahr zurückzublicken, ohne zu verzweifeln? Was braucht es in einer Welt, die so gespalten ist durch Angst und Hass wie zu kaum einem Zeitpunkt seit dem Zweiten Weltkrieg?

Zum ersten jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana seit dem barbarischen Hamas-Terror des 7. Oktober müssen wir uns besinnen auf die Kraft des Glaubens, auf den Willen zur Menschlichkeit und den Wunsch auf ein friedliches Zusammenleben auf dieser Erde. Das fällt – zumal für uns Juden – gefühlt immer schwerer. Auch hier in Deutschland.

Aggressiver Islamismus wird im Zeichen einer falsch gedachten Toleranz gegenüber den Intoleranten häufig beschwichtigt oder relativiert. Dabei ist islamistischer Terror keine Sache der Juden, er ist ein Angriff auf die westliche Welt, auf die liberale Demokratie, auf unsere offene Gesellschaft. Er richtet sich darüber hinaus auch gegen die große Mehrheit der Muslime, die sich dieser Radikalität entgegenstellen.

Judenhass als Teil der Hass-Ideologie

Judenhass ist also ein Teil dieser Hass-Ideologie, aber sie ist nicht auf ihn beschränkt. Wenn das nicht bald verstanden und – was viel wichtiger ist – danach gehandelt wird, gibt es irgendwann nichts mehr, das verteidigt werden kann.

Wir brauchen klare und ehrliche Politik, die die Menschen verstehen, mit der sie sich auseinandersetzen können und die ihnen ernsthaft vermittelt, für sie da zu sein. Politik in einer Demokratie darf weder ignorant sein, noch darf sie willentlich oder unwillentlich verschleiern.

Eine Vogel-Strauß-Taktik führt bereits zur Erosion von Gewissheiten, die als unveränderbar angenommen wurden. Nicht nur muslimischem Antisemitismus oder islamistischer Ideologie wird Tür und Tor geöffnet, an ihrer Seite – nicht als Begleiterscheinung, aber als Teil einer von Hass durchsetzen Gedankenwelt – drängt sich ein zerstörerischer Rechtsextremismus in unsere Gesellschaft, in unsere Parlamente.

Eine Normalisierung rechtsextremer Positionen findet auf allen Ebenen statt. War in der Vergangenheit das rechte radikale Spektrum von wechselseitiger Abgrenzung und Zersplitterung geprägt, sind mit dem politischen Erfolg der Rechtsextremen zu­nehmend Bündelungen zu erkennen.

Durch die parlamentarischen Erfolge der AfD erhalten diese eine wahlpolitische Bedeutung – die Strategie der Rechtsextre­men, sich als einzig wahre Stimme des »einfachen Volkes« zu inszenieren, geht auf.

Das Wesen einer offenen Gesellschaft

Damit versuchen sie nicht zuletzt, die Stimmen derjenigen zu delegitimieren, die von Rechts­extremismus unmittelbar bedroht werden. Es wird das infrage gestellt, was das Wesen einer offenen Gesellschaft ausmacht: die Gewissheit, dass auch der andere recht haben kann und dass ein menschliches Miteinander unabdingbar ist.

Unsere Demokratie, unsere Idee von Freiheit, lebt von Voraussetzungen, die sie selbst nicht garantieren kann. Das schrieb der Staatsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde über den säkularisierten Staat. Ohne die umfassende Bindungskraft von Religionen ist in westlichen Gesellschaften der Hang zur Moralität essenziell, wenn sie nicht in autoritäre Totalitätsansprüche zurückfallen wollen, so Böckenförde weiter. Dieses unsichtbare Band, das unsere Gesellschaft zusammenhält, wird immer spröder.

Wir brauchen eine Verteidigung der Moralität – jetzt.

Wenn sich Menschen nur noch in vorgefertigten Meinungswelten auf Social Media bewegen, dann erodiert dieser so wichtige Zusammenhalt. Medien und Politik haben sich in den vergangenen Monaten auf dieses Spiel zu häufig eingelassen. Wir brauchen eine Verteidigung der Moralität – jetzt. Liberale Demokratien sind keine einfachen Herrschaftsformen – Extremisten, egal welcher Couleur, nutzen das aus, um vermeintliche Vorteile autoritärer Formen zu propagieren.

Was kann der jüdische Beitrag dazu sein? Schauen wir auf uns: Was bleibt uns Juden anderes übrig, als mit uns selbst im Reinen zu sein? Seien wir uns bewusst über die tiefe Verwurzelung des Jüdischen in einer Philosophie der Gerechtigkeit. In den Sprüchen der Väter heißt es: »Jeder, der die Menge zum Rechttun verführt, über den habe die Sünde keine Macht. Jeder, der die Menge zur Sünde verführt, hat keine Möglichkeit zur Umkehr« (5, 18.1.).

Zusammenhalt unserer Gemeinschaft

Nehmen wir uns das zu Herzen, wenn wir jetzt in das neue Jahr 5785 gehen. Denken wir an den Zusammenhalt unserer Gemeinschaft, der uns hoffen und glauben lässt. Gerade die Hohen Feiertage, die gemeinsame Besinnung in der Synagoge – Schulter an Schulter – hat etwas Belebendes. Es gibt unserer Gemeinschaft eine Seele. Dieses Gefühl ist so wichtig für uns. Tragen wir es hinaus aus unseren Häusern und über diese Zeit. Blasen wir das Schofar, sodass es jeder hört.

Wir können mit diesem Glauben an uns selbst einen Unterschied machen. Das Vertrauen darauf möchte und will ich nicht verlieren. Religion und Glaubensgemeinschaften mögen in unserer Zeit nicht mehr die gesamtgesellschaftliche Bindungskraft erzeugen – das ist ja auch der Punkt, von dem Böckenförde ausgeht.

Ein säkularisierter Staat ist aber kein Staat ohne Religion. Religionen – oder die Idee von Religion – sind elementarer Bestandteil einer offenen Gesellschaft. Sie prägen sie, geben ihr Mäßigung, und sie haben die Möglichkeit, unserem Gemeinwesen weit über ihre bloße Existenz hinaus eine Richtung zu zeigen. Sie geben nicht nur jedem Einzelnen Halt, sondern schützen uns auch vor dem, was der Philosoph und Politikwissenschaftler Eric Voegelin »politische Religion« genannt hat: Fanatismus und Erlösungsfantasie, Extremismus und Totalitarismus.

Rosch Haschana ist der Beginn der Teschuwa, einer Zeit, in der wir uns selbst prüfen, bis wir uns an Jom Kippur mit uns und anderen versöhnen. Wir werden in diesen Tagen viel an den Schmerz, an die Wut und an die Verzweiflung denken; Gefühle, die uns alle in den Tagen nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober ergriffen haben. Aber wir werden uns davon nicht bestimmen lassen. Das Geschehene verpflichtet uns zu einer Kraft, die uns nach vorn blicken lässt; einer Kraft, die an uns glaubt und an das Gute in der Welt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen und Ihren Familien Schana towa umetuka!

Der Autor ist Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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