Am Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus wird seit 1996 am 27. Januar an die Befreiung der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau erinnert. Die Schoa wird für einen Tag wieder in das kollektive Gedächtnis der Öffentlichkeit gehoben. Jüdische Kinder brauchen einen solchen Anlass nicht.
»Die Schoa hat sich tief in ihr kollektives Gedächtnis eingegraben«, sagt Noga Hartmann, Leiterin der Lichtigfeld-Schule in Frankfurt und Vorsitzende der Schulleiterkonferenz jüdischer Schulen im deutschsprachigen Raum. Daher ist es für Hartmann selbstverständlich, dass die Schoa im Unterricht jüdischer Schulen vorkommt. Auf das »Wie« komme es an.
Ein internationales Lehrertreffen der Bildungsstätte von Yad Vashem habe diesbezüglich Maßstäbe gesetzt, erzählt sie. Nicht zuletzt dort habe sie gelernt: »Eines ist beim Unterricht oder bei der Projektarbeit zum Thema Schoa immer höchstes Gebot: Die Kinder dürfen nicht traumatisiert werden.«
»Wir fangen ganz allgemein und einfach an«, erklärt Hartmann das Konzept und nennt als Beispiel das Buch Das Vier-Farben-Land, in dem Fünfjährige die Botschaft vermittelt bekommen: Sei offen für andere – ein buntes Leben ist schöner als eines, das die Stadt in einen roten, blauen, gelben oder grünen Teil trennt.
Hilfe In der zweiten Klasse lernen die Kinder die Geschichte eines Mädchens kennen, das überlebt hat, das aber Hunger leiden musste und im Ghetto lebte. »Wenn die Kinder älter werden, greifen wir das Thema ›Gerechte unter den Völkern‹ auf«, beschreibt Hartmann die langsame Steigerung, sich dem Komplex Schoa zu nähern. »Es ist ganz wichtig, dass wir die Kinder darauf hinweisen, dass es auch Menschen gab, die mutig waren«, sagt die Pädagogin. Obwohl Anne Franks Geschichte nicht gut ausgeht, zeige das Beispiel doch, dass Leute geholfen haben.
Einen weitere Ansatzpunkt bietet Janusz Korczak, mit bürgerlichen Namen Henryk Goldszmit. Der polnische Arzt, Kinderbuchautor und Pädagoge begleitete die Kinder seines Waisenhauses beim Abtransport in ein Vernichtungslager, obwohl das auch für ihn selbst den Tod bedeutete. Oder man greift den Fall des schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg auf. Er stellte ungarischen Juden während des Holocaust schwedische Schutzpässe aus und konnte sie retten. »Wir zeigen den Kindern: Diese Menschen waren positive Beispiele im Dunkeln.«
»An Jom Haschoa hatten wir einen Raum eingerichtet, in dem es mehrere Stationen gab: Gerechte unter den Völkern, Beispiele von Zivilcourage, Widerstand, nicht nur im Warschauer Ghetto, sondern eine kleine Geschichten des Widerstands, wie man im Ghetto trotz der widrigen Umstände lernte, Barmizwa feierte und versuchte, jüdisches Leben und Menschlichkeit aufrecht zu erhalten.«
Lebensgeschichten »In der siebten Klasse haben wir im letzten Jahr das Buch von Tami Lehman-Wilzig, Keeping the Promise; A Torah’s Journey, gelesen.« Eine Möglichkeit, das Thema Schoa im Englischunterricht zu behandeln. »Das fanden die Schüler ganz toll.«
»Parallel dazu kam Rabbiner Andrew Steiman zu uns und brachte eine sehr alte Torarolle zur Schabbatstunde mit.« Steiman erzählte die Geschichte dieser Torarolle, wie sie auf einem Transport mitgenommen worden war, aus dem Waggonfenster hinausgeworfen und von Menschen aufgehoben wurde. »Die Schoa ist sozusagen die Folie, auf der sich alle diese Geschichten abspielen.«
Auf Augenhöhe mit den Schülern, nennt Daphne Schächter, Leiterin der Yitzhak-Rabin-Grundschule in Düsseldorf, dieses pädagogische Konzept. Die Geschichten sind dem Alter der Schüler angepasst. Sie greife daher gern auf den Museumskoffer zurück, der von der Mahn- und Gedenkstätte Düsseldorf zur Verfügung gestellt wird und voller Unterrichtsmaterialien ist. Unter anderem erzählt er die Geschichte von vier Kindern, die in Düsseldorf geboren wurden. »Die Schüler lernen diese Kinder nach und nach kennen: Was wurde ihnen verboten, wie haben sie sich gefühlt? Und dabei ist den Schülern immer klar: Die vier haben überlebt«, erzählt Schächter. Die Viertklässler erfahren, wie es ist, ausgeschlossen zu werden.
Zeitzeugen Eine weitere Möglichkeit, sich mit dem Holocaust zu befassen, sei heute zum Glück noch das Gespräch mit Zeitzeugen, die die Kinder besuchen. Sie erzählen Geschichten aus einer Zeit, in der sie so alt waren wie die Schüler, die vor ihnen sitzen. »Es ist wichtig, dass die Geschichte positiv ausgeht. Die Überlebende sitzt vor uns, sie hat überlebt, weil die Eltern sie auf einen Kindertransport geschickt haben.« Die Kinder können nachvollziehen, wie es ist, »ohne Mama und Papa zu sein«, und gleichzeitig erfahren sie etwas über die Kindertransporte.
In der Hamburger Carlebach-Schule kommt die Schoa im Grundschulunterricht nicht vor, sagt Schulleiter Gerd Gerhard. Ab der fünften Klassenstufe wird sie als Projektarbeit aufgenommen. Die Klasse Acht hatte vor zwei Jahren die Schoa im Zusammenhang mit einer Gedenkveranstaltung am Dammtorbahnhof in Hamburg behandelt. Von dort gingen 1938/39 Kindertransporte nach England ab. An die aus Hamburg geretteten 1000 Kinder erinnert seit dem 6. Mai 2015 die Skulptur »Kindertransport – Der letzte Abschied«.
»Die Klasse befasste sich unter dem Stichwort ›Verlassen der Heimat‹ mit dem Thema. Projektbezogen arbeiteten sie mehrere Wochen daran.« Eine Klasse weiter wird der Holocaust anhand literarischer Beispiele wieder aufgegriffen, erklärt Gerhard.
Fokus Michael Bock, Leiter des im Sommer eröffneten Albert-Einstein-Gymnasiums in Düsseldorf, bringt Erfahrungen vor allem aus dem staatlichen Schulwesen mit. Staatliche und jüdische Schulen legten durchaus unterschiedliche Schwerpunkte, und sei es in der Auswahl der Gedenktage. »Wir richten das Hauptaugenmerk auf den 9. November. Den 27. Januar behandeln wir, um Kindern, die durch die Medien, also Zeitungen, Radio und Fernsehen, davon erfahren, die Möglichkeit zu geben, sich damit auseinanderzusetzen und zu lernen, die Informationen einzuordnen.«
Häufig tragen Kinder Geschichten aus der Schoa selbst in den Unterricht hinein. »Es gibt Schüler, deren Großeltern den Holocaust erlebt haben, dies ist ein guter Ansatz, das Thema aufzugreifen«, sagt Bock. Er begrüßt es, dass die Großeltern wieder anfangen zu erzählen, »nicht wie in meiner Generation, in der die Eltern überhaupt nicht darüber sprachen«. Die Großeltern haben überlebt. »Ich glaube, dass es für Kinder ganz wichtig ist, dass das, was sie erfahren, zwar nicht ein fröhliches Ende nimmt – wie in amerikanischen Filmen – aber ein gutes«, sagt Bock.
Nicht immer ist ein solches Hereintragen von außen willkommen. So erinnert sich Noga Hartmann an die Geschichte eines Jungen, dessen Großeltern aus Weißrussland kamen. Die Schüler hatten sich damit beschäftigt, aus welchen Ländern sie stammten. Sie kamen aus aller Welt. Auf die Frage, ob sie sich in Weißrussland kennengelernt hätten, erzählte der Junge, der Opa habe im Krieg als Soldat der Roten Armee schreckliche Dinge mit Juden gesehen, die Oma habe ihm als Angehörige einer Sanitätseinheit in der schweren Zeit geholfen. »Und so hatten wir plötzlich das Thema Schoa im Raum, obwohl es um etwas ganz anderes ging«, sagt Hartmann.