Wie pflanzt man jüdisches Leben in verbrannter Erde? Auf Leben. 75 Jahre Jüdische Gemeinde Frankfurt widmet sich genau dieser Frage. Die Ausstellung, die noch bis zum 26. Mai zu sehen ist, erzählt die berührende Geschichte des Auflebens der Jüdischen Gemeinde, die nach 800 Jahren von den Nazis beinahe vollständig ausgelöscht wurde und deren wenige Überlebende schon kurz nach Kriegsende einen Neuanfang wagten.
Diesen Sprung ins kalte Wasser zeigen auch die Plakate: Eine Schülerin der jüdischen Schule in Frankfurt springt in Badekappe vom Dreimeterbrett, die Arme weit ausgebreitet. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus den 70er-Jahren. Der Ausstellungstitel Auf Leben ist ein doppeltes, vielleicht sogar dreifaches Wortspiel: eine Referenz auf den Trinkspruch »L’Chaim« und zugleich Metapher für die geglückte Wiederbelebung einer totgeglaubten Gemeinde, in der Judentum heute wieder selbstbewusst gelebt wird.
Das 75-jährige Jubiläum dieser Wiederbegründung wollte die Gemeinde nicht nur bloß feiern, erzählt Marc Grünbaum, Kulturdezernent der Gemeinde: »Wir wollten uns zurückbesinnen – auf das, was wir schon geschafft haben, auf die Menschen, die unsere Gemeinde zu dem gemacht haben, was sie heute ist.«
Konzept und Stiftungsmittel
Drei Jahre lang entwickelte sein Dezernat dieses Konzept weiter und beantragte Stiftungsmittel. Auf Leben erhielt sogar Gelder aus dem renommierten Kulturfonds Frankfurt RheinMain, der bedeutende Ausstellungen in der Region finanziert. »Ich bin sehr stolz darauf, dass wir die erste Ausstellung über jüdisches Leben zeigen, die von einer jüdischen Gemeinde selbst kuratiert wurde«, sagt Grünbaum.
Die Ausstellung ist allerdings nicht nur eine Selbstbeobachtung, sie deckt auch einen wichtigen Teil Frankfurter und deutsch-jüdischer Geschichte auf, der bislang im Verbogenen lag. »Wir eröffnen eine Perspektive, die bislang vernachlässigt wurde«, sagt Grünbaum stolz. Vor einem Jahr kamen die Kuratoren Laura Schilling und Fedor Besseler zum Projekt. Sie stürzten sich in eine Flut an Fotografien, Zeitungsartikeln, Tonaufnahmen und Gemeinderatsprotokollen, durchforsteten 41 Archive und befragten 51 Zeitzeugen. »Wir schauten vor allem danach, welche Geschichten noch nicht erzählt wurden«, sagt Besseler.
»Wir eröffnen eine Perspektive, die bislang vernachlässigt wurde.«
Kulturdezernent Marc Grünbaum
Hervorgehoben wurden dabei zwei Momente, die in der Ausstellung aus dem Zeitstrahl herausgelöst erscheinen: die tumultartigen Gemeinderatswahlen von 1971, bei denen ganz überraschend eine Gruppe um den späteren Historiker Dan Diner gewann. So zogen die Ideale der jungen linken Studentenbewegung in die etwas angestaubten Gemeindeinstitutionen.
Und der sogenannte Theaterskandal von 1985, bei dem Juden die Bühne des Schauspielhauses Frankfurt besetzten, um gegen die Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod zu protestieren, in dem ein »reicher Jude« zum bösen Protagonisten wird. Einige Gemeindemitglieder hatten offenbar Eintrittskarten gefälscht und waren so in das Theater gelangt. Unter ihnen auch Ignatz Bubis, der spätere Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und Namensgeber des heutigen Gemeindezentrums in Frankfurt, in dem die Ausstellung gezeigt wird.
Es war das erste Mal, dass die jüdische Gemeinde so öffentlich laut wurde. »Das sind Meilensteine in der Identitätsfindung der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland«, sagt Grünbaum. In der Ausstellung kann man nun die Tonaufnahmen der Besetzung hören – eine Premiere.
Aber auch die weniger dramatischen Figuren erhalten in dieser Ausstellung eine Bühne, die ihnen lange verwehrt blieb. So ehrt Auf Leben die Arbeit der vielen Engagierten, seien es Religionslehrer oder Kindergärtnerinnen. Im Scheinwerferlicht steht auch der erste Gemeinderatsvorsitzende Max Ludwig Cahn, der kurz vor Kriegsende untergetaucht war und danach alsbald die Neugründung vorantrieb.
Besondere Nähe zu Israel
Auch die besondere Nähe zu Israel, dessen Kraft und Krisen die Gemeinde immer geprägt haben, wird in der Ausstellung thematisiert. Während des Sechstagekriegs flossen über zwei Millionen Mark Spenden aus Frankfurt in das bedrohte Land. Und auch heute ist Israel wieder ganz nah.
»Eigentlich war die Ausstellung bereits vor dem 7. Oktober fertig«, erinnert sich Laura Schilling. »Wir haben dann überlegt, wie wir auf den nun neuen Resonanzraum reagieren können.« Schließlich wurde die Ausstellung um zwei Fotografien bereichert: Sie zeigen den Schabbattisch für 222 Geiseln, den die jüdische Gemeinde symbolisch auf dem Frankfurter Römerberg aufstellte.
So ist im Frankfurter Gemeindezentrum über zwei Etagen ein umfassender, vielfältiger Blick in die vergangenen Jahrzehnte entstanden, in denen trotz aller Veränderungen auch immer wieder die gleichen großen Themen aufscheinen, die die jüdische Gemeinde bis heute bewegen. Historiker Fedor Besseler erzählt, wie sich am Eröffnungsabend eine ältere Dame, Tochter von Schoa-Überlebenden, ihm zuwandte: »Was Sie hier ausstellen, ist eigentlich mein Leben.« Und das ist wohl das größte Kompliment.
Die Ausstellung »Auf Leben« im Ignatz Bubis-Gemeindezentrum ist ab dem 15. Januar wieder geöffnet. Mehr Infos unter https://75jahre.jg-ffm.de/