Ausstellung

»Auch Schweigen gehört zum Erzählen«

Wie wird es sein, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind? Und wie geht man mit ihren Erzählungen um?

von Nina Schmedding  07.07.2022 15:08 Uhr

Foto: imago/Peter Sandbiller

Wie wird es sein, wenn die Zeitzeugen nicht mehr da sind? Und wie geht man mit ihren Erzählungen um?

von Nina Schmedding  07.07.2022 15:08 Uhr

Wenn Ismar Reich von damals erzählt - in sachlichem, freundlichem Ton - sind seine Emotionen zunächst nicht sichtbar. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen erklärt er, dass er über seine Jahre in Berliner Verstecken nach seiner Auswanderung 1946 in die USA jahrzehntelang nicht gesprochen hat - und zwar ganz bewusst: Er habe sich »abschneiden müssen von dieser Erfahrung«, damit er nicht selbst vollendete, was die Nazis begonnen hatten, wie Reich sagt: »Meine Hände zitterten unkontrollierbar, und ich hatte ständig wiederkehrende Alpträume«.

Das in den 1990er Jahren aufgezeichnete Interview mit dem ehemaligen Berliner ist Teil der Ausstellung »Ende der Zeitzeugenschaft?«, die ab Donnerstag in der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum zu sehen ist. Eröffnet wird die Ausstellung an diesem Mittwoch von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). Sie wurde in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg konzipiert.

Das Centrum Judaicum sei ein »Gedächtnisort des jüdischen Berlins«, erklärt Stiftungsdirektorin Anja Siegemund. »Erinnerung gehört zu unseren Kernfragen.« Die bis zum 8. Januar 2023 dauernde Schau zeichnet anhand von Videostationen, Fotos und weiteren Dokumenten die Entwicklung der Zeitzeugenschaft von 1945 bis heute nach.

Nach dem Völkermord an den Juden waren die Überlebenden zunächst oft allein mit ihren Erinnerungen, das Interesse daran begann in Deutschland verstärkt erst seit den 1980er Jahren. Die Schau dokumentiert das etwa mit Reaktionen auf die Serie »Holocaust«, die Ende der 1970er Jahre im WDR lief und ungezählte Leserbriefe und Telefonanrufe zur Folge hatte.

Die Ausstellung, die erstmals 2019 im Jüdischen Museum Hohenems zu sehen war, wird in der Hauptstadt um Zeitzeugeninterviews mit Berlin-Bezug ergänzt. Zudem wurden spezielle Interviews mit zeitgenössischen Berliner Jüdinnen und Juden verschiedener Herkunft zu ihrem Umgang mit der Vergangenheit geführt.

Erinnerungen, die bewusst verschwiegen werden, oder Fragen, die unbeantwortet bleiben: In der Schau geht es auch um den »kompletten Prozess des Zeugnisablegens - also einen Blick hinter die Kulissen«, wie Kuratorin Anika Reichwald erläutert, die das Projekt in Hohenems initiierte. Dazu gehören die Interviewenden und ihre Erwartungen ebenso wie das Setting - also etwa die Technik beim Interview, das Licht oder auch das Make-Up.

Es geht »weniger um die Frage des ›Was‹ - also die historischen Fakten - als um die Frage, wie etwas erzählt wird«, so Reichwald. »Wir wollen dabei auch brechen mit der Vorstellung, dass jemand reden muss: Auch Schweigen gehört zum Erzählen dazu.« Neben den bearbeiteten Interviews sind deshalb auch einige in voller Länge zu sehen - mit allen Brüchen, Pausen, technischen Störungen oder Tränen.

Noch gibt es hunderttausende Schoa-Überlebende. »Ich glaube aber nicht, dass der Holocaust verloren geht, auch wenn alle Zeitzeugen gestorben sind«, so Co-Kuratorin Alina Gromova, die in der Schau für die Interviews mit den jungen jüdischen Berlinerinnen und Berlinern verantwortlich war. »Die Erinnerung an die Schoa ist auch in der zweiten, dritten und vierten Generation stark verankert.«

Und Zeitzeugen, die - besonders seit den 1990er Jahren - Schulen besuchen? Wie lässt sich die Lücke, die dort entstehen wird, auffangen? »Ja, Schülerinnen und Schüler reagieren stark auf Zeitzeugen vor Ort. Aber sie reagieren auch stark auf ihr Smartphone«, stellt Reichwald mit Blick auf die digitalisierten Interviews fest.

Erst 1983 hat Reich, der 2005 starb, seine Geschichte erstmals aufgeschrieben. Zu sehen ist in der Ausstellung, wie er reagiert, als die Interviewerin ihm für seine Bereitschaft dankt, mit ihr zu sprechen. Da ist dem bis dahin sehr gefasst wirkenden Mann seine tiefe Bewegung anzusehen. »Solange ich lebe, möchte ich durch meine Erinnerungen zeigen, dass es keine Farce war, sondern blanke Realität«, sagt Reich, und seine Augen werden feucht. »Können Sie sich vorstellen, wieviele Einsteins damals getötet wurden? Was hätten sie für die Menschheit tun können?«

Oldenburg

Judenfeindliche Schmierereien nahe der Oldenburger Synagoge   

Im vergangenen Jahr wurde die Oldenburger Synagoge Ziel eines Anschlags. Nun meldet eine Passantin eine antisemitische Parole ganz in der Nähe. Die Polizei findet darauf noch mehr Schmierereien

 21.02.2025

Berlin

Wladimir Kaminer verkauft Wohnung über Facebook

Mit seiner Partyreihe »Russendisko« und vielen Büchern wurde Wladimir Kaminer bekannt. Für den Verkauf einer früheren Wohnung braucht er keinen Makler

 20.02.2025

Berlin

Eine krasse Show hinlegen

Noah Levi trat beim deutschen Vorentscheid für den Eurovision Song Contest an. In die nächste Runde kam er nicht, seinen Weg geht er trotzdem

von Helmut Kuhn  20.02.2025

Thüringen

Antisemitismus-Beauftragter soll »zeitnah« ernannt werden

Seit Dezember ist der Posten unbesetzt. Dem Gemeindevorsitzenden Schramm ist es wichtig, dass der Nachfolger Zeit mitbringt

 19.02.2025

Weimar

Erlebtes Wissen

Eine Fortbildung für Leiter jüdischer Jugendzentren befasste sich mit der Frage des zeitgemäßen Erinnerns. Unsere Autorin war vor Ort dabei

von Alicia Rust  18.02.2025

Bundestagswahl

Scharfe Worte

Über junge politische Perspektiven diskutierten Vertreter der Jugendorganisation der demokratischen Parteien in der Reihe »Tachles Pur«

von Pascal Beck  18.02.2025

Justiz

Vorbild und Zionist

Eine neue Gedenktafel erinnert an den Richter Joseph Schäler, der bis 1943 stellvertretender IKG-Vorsitzender war

von Luis Gruhler  18.02.2025

Emanzipation

»Die neu erlangte Freiheit währte nur kurz«

Im Münchner Wirtschaftsreferat ist eine Ausstellung über »Jüdische Juristinnen« zu sehen

von Luis Gruhler  18.02.2025

Portät der Woche

Magische Momente

German Nemirovski lehrt Informatik und erforscht den Einsatz Künstlicher Intelligenz

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.02.2025