Wenn Ismar Reich von damals erzählt - in sachlichem, freundlichem Ton - sind seine Emotionen zunächst nicht sichtbar. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen erklärt er, dass er über seine Jahre in Berliner Verstecken nach seiner Auswanderung 1946 in die USA jahrzehntelang nicht gesprochen hat - und zwar ganz bewusst: Er habe sich »abschneiden müssen von dieser Erfahrung«, damit er nicht selbst vollendete, was die Nazis begonnen hatten, wie Reich sagt: »Meine Hände zitterten unkontrollierbar, und ich hatte ständig wiederkehrende Alpträume«.
Das in den 1990er Jahren aufgezeichnete Interview mit dem ehemaligen Berliner ist Teil der Ausstellung »Ende der Zeitzeugenschaft?«, die ab Donnerstag in der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum zu sehen ist. Eröffnet wird die Ausstellung an diesem Mittwoch von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne). Sie wurde in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg konzipiert.
Das Centrum Judaicum sei ein »Gedächtnisort des jüdischen Berlins«, erklärt Stiftungsdirektorin Anja Siegemund. »Erinnerung gehört zu unseren Kernfragen.« Die bis zum 8. Januar 2023 dauernde Schau zeichnet anhand von Videostationen, Fotos und weiteren Dokumenten die Entwicklung der Zeitzeugenschaft von 1945 bis heute nach.
Nach dem Völkermord an den Juden waren die Überlebenden zunächst oft allein mit ihren Erinnerungen, das Interesse daran begann in Deutschland verstärkt erst seit den 1980er Jahren. Die Schau dokumentiert das etwa mit Reaktionen auf die Serie »Holocaust«, die Ende der 1970er Jahre im WDR lief und ungezählte Leserbriefe und Telefonanrufe zur Folge hatte.
Die Ausstellung, die erstmals 2019 im Jüdischen Museum Hohenems zu sehen war, wird in der Hauptstadt um Zeitzeugeninterviews mit Berlin-Bezug ergänzt. Zudem wurden spezielle Interviews mit zeitgenössischen Berliner Jüdinnen und Juden verschiedener Herkunft zu ihrem Umgang mit der Vergangenheit geführt.
Erinnerungen, die bewusst verschwiegen werden, oder Fragen, die unbeantwortet bleiben: In der Schau geht es auch um den »kompletten Prozess des Zeugnisablegens - also einen Blick hinter die Kulissen«, wie Kuratorin Anika Reichwald erläutert, die das Projekt in Hohenems initiierte. Dazu gehören die Interviewenden und ihre Erwartungen ebenso wie das Setting - also etwa die Technik beim Interview, das Licht oder auch das Make-Up.
Es geht »weniger um die Frage des ›Was‹ - also die historischen Fakten - als um die Frage, wie etwas erzählt wird«, so Reichwald. »Wir wollen dabei auch brechen mit der Vorstellung, dass jemand reden muss: Auch Schweigen gehört zum Erzählen dazu.« Neben den bearbeiteten Interviews sind deshalb auch einige in voller Länge zu sehen - mit allen Brüchen, Pausen, technischen Störungen oder Tränen.
Noch gibt es hunderttausende Schoa-Überlebende. »Ich glaube aber nicht, dass der Holocaust verloren geht, auch wenn alle Zeitzeugen gestorben sind«, so Co-Kuratorin Alina Gromova, die in der Schau für die Interviews mit den jungen jüdischen Berlinerinnen und Berlinern verantwortlich war. »Die Erinnerung an die Schoa ist auch in der zweiten, dritten und vierten Generation stark verankert.«
Und Zeitzeugen, die - besonders seit den 1990er Jahren - Schulen besuchen? Wie lässt sich die Lücke, die dort entstehen wird, auffangen? »Ja, Schülerinnen und Schüler reagieren stark auf Zeitzeugen vor Ort. Aber sie reagieren auch stark auf ihr Smartphone«, stellt Reichwald mit Blick auf die digitalisierten Interviews fest.
Erst 1983 hat Reich, der 2005 starb, seine Geschichte erstmals aufgeschrieben. Zu sehen ist in der Ausstellung, wie er reagiert, als die Interviewerin ihm für seine Bereitschaft dankt, mit ihr zu sprechen. Da ist dem bis dahin sehr gefasst wirkenden Mann seine tiefe Bewegung anzusehen. »Solange ich lebe, möchte ich durch meine Erinnerungen zeigen, dass es keine Farce war, sondern blanke Realität«, sagt Reich, und seine Augen werden feucht. »Können Sie sich vorstellen, wieviele Einsteins damals getötet wurden? Was hätten sie für die Menschheit tun können?«