Herr Kovacs, das Festjahr »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« endet diese Woche. Wenn Sie es mit drei Worten im Rückblick beschreiben müssten – welche wären das?
Leben, Begegnung und Respekt. Die Statistiken zeigen, dass Antisemitismus in Europa wieder erstarkt. Wir haben mit dem Festjahr versucht, eine Zäsur zu wagen – wir wollten nicht nur erinnern und Wissen über jüdische Geschichte und Bräuche vermitteln, sondern einen Fokus auf das Leben heute und die Zukunft richten. Theodor Adorno hat einmal gesagt, Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden. Wir wollten Empathie gegen Gerüchte setzen und stereotypes Denken infrage stellen. Um Antisemitismus entgegenzuwirken, braucht es Empathie, Verständnis und Respekt. All das gewinnt man durch Begegnung.
Wie erfolgreich war das Festjahr, was konnte erreicht werden?
Wir hatten mehr als 2400 Veranstaltungen von rund 840 Projektpartnern in allen 16 Bundesländern. Gerechnet hatten wir mit 1000 Veranstaltungen. Hinzu kommen Projekte ohne Förderung, die nicht in der Statistik auftauchen. Wir hoffen natürlich, dass wir damit Impulse gegeben haben und Mut zur Begegnung vermitteln konnten. Als gesamtgesellschaftliche Initiative konnten wir Partner gewinnen, die enorm innovative Formate entwickelt haben. Etwa das TV-Format »Freitagnacht Jews« mit Daniel Donskoy. Wir haben gesehen, dass sich viele Menschen erstmals überhaupt mit jüdischem Leben und der jüdischen Perspektive auf die Gegenwart auseinandergesetzt haben. Wir hoffen, dass dabei Begegnungen und Bindungen entstanden sind, die bleiben und weiterwirken.
Sie haben die Fülle der Veranstaltungen angesprochen, nennen Sie uns gerne ein paar Highlights.
Unser eigenes Projekt »Sukkot XXL« zum Beispiel: 40 Laubhütten von 30 Veranstaltenden in 13 Bundesländern – das war wahrscheinlich das größte öffentlich begangene Laubhüttenfest der Welt. Die Beteiligung an diesen gemeinsamen Sukkotfeiern war jedenfalls enorm. Unser Festakt zur Eröffnung musste wegen der Pandemie kurzfristig in ein Magazinformat fürs Fernsehen umgewandelt werden – und hat eine halbe Million Einschaltquote erreicht. Es gab große Ausstellungen etwa im Berliner Centrum Judaicum und in Frankfurt zum Mikwen-Thema, es gab die Briefmarke »Le Chaim« und die Fertigstellung der Tora im Deutschen Bundestag zum Gedenktag am 27. Januar 2021.
Neben den großen Projekten gab es auch eine Vielzahl kleinerer Veranstaltungen. Wie beurteilen Sie diese?
Für mich waren die kleinen Projekte abseits der Metropolen das eigentliche Highlight. Dort haben sich Menschen teilweise das erste Mal überhaupt mit dem Thema jüdisches Leben beschäftigt. Und viele Kommunen oder Bundesländer haben ihre Projekte selbst finanziert und realisiert. Dass man in Frankfurt oder Berlin über jüdisches Leben spricht, ist klar. Aber dass auch an Orten geredet wird, wo jüdisches Leben heute kaum präsent ist, das ist in Deutschland nicht so selbstverständlich.
Gab es auch Veranstaltungen im Ausland?
Ja, über 20 Auslandsvertretungen der Bundesrepublik weltweit haben sich mit Veranstaltungen beteiligt. So entstand zum Beispiel eine Sukka in Ankara.
Das Jubiläumsjahr stieß auch auf heftige Kritik, es sei zu positiv auf das Heute gerichtet und klammere die vor allem von Pogromen und dem Holocaust geprägte deutsch-jüdische Geschichte aus …
Erinnerungskultur, Bildung und die Vermittlung von Wissen über die Schoa sind unfassbar wichtig, auch weiterhin. Das war ja auch ein Teil des Festjahres. Aber betrachtet man empirische Studien und beachtet man auch persönliche Erfahrungen vieler Jüdinnen und Juden, dann muss man festhalten: Wir haben es anscheinend nicht geschafft, den Antisemitismus nachhaltig zu bekämpfen. Im Gegenteil: Die Zahl der Angriffe auf Juden und jüdische Einrichtungen nimmt zu. Laut Statistik muss ich damit rechnen, dass jeder Dritte in Deutschland, dem ich auf der Straße begegne, antisemitische Vorurteile mit sich trägt. Da muss man sich die Frage stellen: Haben wir genug getan? Wir wollten durch das Festjahr bisherige Ansätze nicht ersetzen, sondern ergänzen. Wir haben versucht, dem Antisemitismus etwas Positives entgegenzusetzen. Das entspricht auch dem, was viele junge Jüdinnen und Juden fordern: nämlich den Blick nicht nur zurück, sondern auch in die Zukunft zu richten.
Warum ist das so wichtig?
Ich denke, wir befinden uns gerade in einer bedeutsamen Phase, es findet ein Paradigmenwechsel statt. Die Überlebenden der Schoa sterben leider. Die Erinnerungen wachzuhalten, ist eine große Herausforderung. Zugleich wünschen sich junge Jüdinnen und Juden, als selbstverständlicher, gleichwertiger Bestandteil einer modernen, zukunftsorientierten Gesellschaft wahrgenommen zu werden. Sie wollen ihr jüdisches Selbstverständnis in der Gesellschaft neu verorten und verhandeln. Das erfordert Raum und Respekt. Eine neue Generation jüdischen Lebens in Deutschland muss ihrer Zeit gerecht werden und neue Wege ausprobieren. Das Festjahr war so ein Weg. Damit den Antisemitismus bekämpfen zu wollen – diesen ältesten und wahrscheinlich tödlichsten Virus der Menschheitsgeschichte –, wäre anmaßend. Aber dass wir einen Beitrag leisten konnten, das hoffen wir auf jeden Fall.
Wie sieht Ihre persönliche Bilanz aus?
Ich hatte unglaublich bereichernde Begegnungen mit Menschen in Gemeinden, mit Schülern, Pädagogen, Politikern, mit Verantwortlichen in Institutionen, Museen, mit Kulturschaffenden. Es war ein Privileg, solchen Leuten begegnen zu dürfen, teilzuhaben an ihrem reichen Wissen und offen mit ihnen diskutieren zu können. Besonders dankbar bin ich, dass wir so viel Unterstützung erhalten haben – aus der Politik und von Förderern. Wir hatten sehr motivierte Projekt- und Kooperationspartner. Und ich habe ein unglaublich motivierendes Team. Dass uns als Jüdinnen und Juden heute so viele Menschen beistehen und gemeinsam für die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland eintreten, macht mich froh. Das ist ein Unterschied zu früher. Deswegen überwiegt aus meiner persönlichen Sicht der Dank, dass ich trotz früherer Zweifel, die man als Teil der zweiten Generation in Deutschland hatte, mittlerweile doch an eine Zukunft meiner Kinder in Deutschland denken kann.
Wie hat die Corona-Pandemie das Festjahr beeinflusst?
Die Pandemie hatte mit Blick auf das Jubiläumsjahr gute und schlechte Seiten. Negativ war natürlich, dass persönliche Begegnungen erschwert wurden. Veranstalter mussten ihre Konzepte oft im letzten Moment umbauen. Aber wir haben große Unterstützung vom Bund bekommen. Dass wir das Festjahr verlängern konnten, damit Veranstaltungen auch in Präsenz stattfinden konnten, ist zum Beispiel nicht selbstverständlich. Positiv ist auch, dass nur wenige Projektpartner ihre Teilnahme absagten und viele mutige digitale Formate entstanden sind.
Wie kann das Festjahr weiterhin nachklingen?
Unser Ziel ist es, die Ergebnisse und die erfolgreichen Formate zu verstetigen. Internetauftritte, digitale Angebote, Podcasts, solche Angebote bleiben. So werden unsere Podcasts zum Beispiel von der Universität Köln genutzt als Einblicke in jüdisches Leben. Und die Videos zu den jüdischen Feiertagen, die wir mit dem Bubales Puppentheater entwickelt haben, werden vielfältig pädagogisch eingesetzt.
Wie würden Sie Rückmeldungen und Resonanz beschreiben?
Es gab viele Menschen und Institutionen, die begeistert waren. Und es gab viele – vor allem jüdische – Menschen, die skeptisch waren. Beides hat seinen Platz. Ich konnte aber beobachten, dass zahlreiche Skeptiker während des Festjahres ihre Meinung geändert haben. Aber: Kritik ist wertvoller als Lob. Ich finde es wichtig, dass wir selbstkritisch auf das Festjahr blicken, gerade von jüdischer Seite. Je mehr wir diskutieren, desto besser gehen wir in die Zukunft. Letztlich haben wir eine Plattform geboten, um jüdisches Leben erfahrbar zu machen. Und wir wollten bestehende Netzwerke unterstützen und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen. Das ist uns, denke ich, ganz gut gelungen.
Wie geht es mit Ihnen persönlich weiter?
Es gibt viele Anfragen, aber ich kann darüber noch nichts öffentlich machen. Ich plane, dem Thema treu zu bleiben, es gibt noch wahnsinnig viel zu tun, und daran beteilige ich mich gerne. Das Thema hat mich jedenfalls gepackt, und ich bin nicht aus der Welt.
Das Interview mit dem Leitenden Geschäftsführer des Vereins »1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland« führte Annette Kanis.