Reuven Yaacobov sitzt tief gebeugt über einem Holztisch in den Rosensälen der Universität Jena. Vor ihm liegen diverse Stücke Pergament, kleine und große. Ein Behälter mit Tinte steht daneben. Derzeit schreibe er bereits am 5. Buch Mose. Die ersten beiden hat er dabei und rollt sie vor den Augen des Publikums aus. Das Interesse ist groß, selbst vor der Tür stehen Menschen und warten darauf, ihm über die Schulter zu blicken oder mit ihm die Arbeit gemeinsam zu vollenden.
Das öffentliche Schreiben geht weiter. Diese Woche war der sefardische Rabbiner aus Berlin, der gleichzeitig Sofer ist, in Erfurt zu Gast. Und am 14. Juli soll es ein großes öffentliches Fest der Tora in Eisenach geben. Alexandra Husemeyer ist die Organisatorin und möchte an unterschiedlichen Orten das Schreiben mit Austausch, Begegnung und vor allem mit Schüler-Workshops verbinden.
Schulen Die Erfahrung sei positiv, sagt sie. »Wir sind jetzt in fünf Städten damit unterwegs, ich habe sehr verschiedene Schulen angesprochen.« Die meisten Lehrer seien offen dafür, viele jedoch auch unsicher im Umgang und in der Wortwahl. »Wie sagt man das denn eigentlich richtig, darf man Rabbiner sagen?«
Manches sei auch irritierend, erzählt Alexandra Husemeyer. »Mich hat eine Lehrerin gefragt: ›Darf man Jude sagen?‹, weil sie das Wort auf den Schulhöfen als Schimpfwort höre und wissen wollte: ›Wie ist denn die korrekte Bezeichnung?‹«
An manchen Orten, vor allem auch in kleineren Städten, gebe es eine große Unsicherheit, »schlicht aus der Tatsache heraus, dass man keinen Juden kennt«. »Meet a Jew« – das sei die Lösung!
Kirchen In dem aktuellen Projekt geht es zwar in erster Linie um eine neue Torarolle, die die beiden christlichen Kirchen der Jüdischen Landesgemeinde Erfurt schenken werden. Doch genau genommen geht es um viel mehr: um das achtsame jüdisch-christliche Miteinander und die Selbstverständlichkeit jüdischen Lebens hierzulande.
In Jena wurden jüdische Studenten im Nationalsozialismus sehr frühzeitig exmatrikuliert.
Gerade in Jena, auch durch die Universität, hat dieses Miteinander vor 100 Jahren stark gelitten. Jüdische Studenten wurden hier sehr frühzeitig exmatrikuliert, und manche Theologen stellten sich eindeutig in den Dienst des Nationalsozialismus. Ein Erbe, das bis heute in kirchlichen Kreisen nachwirkt und erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten kritisch betrachtet worden ist.
»Theologieprofessoren wie Walter Grundmann (1906–1976), Professor für Neues Testament und Völkische Theologie, lehrten rassistisch-antisemitische Grundüberzeugungen und beteiligten sich an dem perfiden, deutsch-christlich ausgerichteten pseudowissenschaftlichen ›Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben‹«, erzählt der heutige Dekan der Theologischen Fakultät, Christopher Spehr. Dass jener Walter Grundmann während der DDR-Zeit wieder für die Kirche arbeitete und in den Anfangsjahren auch für die Staatssicherheit kirchliche Vertreter aus Ost und West bespitzelte, sei hier nur am Rande erwähnt.
Wurzeln Die fünf Bücher Mose seien fester Bestandteil der Hebräischen Bibel, so Spehr, »die im Christentum das Erste oder Alte Testament genannt wird. Die Tora verdeutlicht unsere gemeinsame Wurzel. Daher wird an der Theologischen Fakultät nicht nur Hebräisch als Sprache gelehrt und gelernt – jede und jeder, der Pfarrerin oder Pfarrer werden will, muss Hebräisch lernen, damit er das Alte Testament in der Ursprache lesen kann.«
»Ich möchte Ihnen von meiner Arbeit erzählen«, erklärt Sofer Reuven Yaacobov den vielen interessierten Laien.
Hannes Bezzel ist einer der Professoren des Fachgebiets Altes Testament. Auch er ist an jenem Tag dabei, als Reuven Yaacobov zu Feder und Tinte greift, um auf Pergament die nächsten Buchstaben zu schreiben: »Unter nationalsozialistischer Herrschaft wurden in ganz Europa ungezählte Torarollen zerstört, entweiht und geraubt – und auch christliche, auch protestantische Theologen haben sich daran beteiligt, unter ihnen auch Vertreter meines Faches, Exegeten, Ausleger der Bibel, die sehr genau wussten, was sie da taten und sich darum bemühten, auch noch theologische Erklärungen dafür zu liefern. Dieser Schandfleck liegt bleibend und mahnend auf unserer Disziplin.«
Reuven Yaacobov stammt aus Usbekistan und weiß von vielen historischen Verwerfungen hierzulande. »Eine Tora zu schreiben, ist nicht so einfach!« Er atmet, er betet, und er blickt ins Publikum: »Ich möchte Ihnen von meiner Arbeit erzählen.« Und so entsteht – auch mit diesen unbekannten Menschen im Raum – eine Verbindung, eine Basis. Für ein neues Miteinander.