Günter Kokoschinski hat schon viel gesehen in seiner Siedlung Neu-Jerusalem, einer denkmalgeschützten Wohnanlage am Rande von Berlin. Aber Teil eines Kunstprojekts war er noch nie. Der 63-jährige frühverrentete Feuerwehrmann lebt schon sein ganzes Leben in dem Haus, das früher in der DDR stand. Er kennt die Nachbarn und kümmert sich um seine Mutter, die mit 86 Jahren heute die älteste Bewohnerin der Siedlung ist.
Haben Kommunalverwaltung, Immobilieninvestoren und Mieter in den letzten Jahren oft darüber gestritten, welchen finanziellen Wert die Häuser haben, möchte der Berliner Fotograf Jean Molitor nun eine künstlerische Brücke von Neu-Jerusalem nach Israel schlagen.
Das Häuserensemble am westlichen Ende der Heerstraße ist architektonisch besonders wertvoll. Denn die seit 1923 von dem jüdischen Architekten Erwin Anton Gutkind errichtete Siedlung ist der vom Bauhaus abgeleiteten Städtebaubewegung Neues Bauen verpflichtet.
verfall Der Architekt emigrierte 1933 nach Paris, lebte später in London und Wales und verstarb 1968 in Philadelphia. Um die Häuser zu retten, stehen diese seit 1995 unter Denkmalschutz. Etwas retten will auch Jean Molitor. »Mein Ziel ist ein weltweites Fotoarchiv solcher vom Bauhaus inspirierter Alltagsarchitektur, denn die bleibt oft unbeachtet«, sagt der Fotograf. »Ich treffe nicht selten auf Verfall und fotografiere gegen die Zeit an.«
Sein Projekt nennt er »bau1haus«, weil er eine Art »Heimstätte für die Architektur« und seine Bilder schaffen will. Ein erster Schritt sei es, ein Bewusstsein für die Bedeutung der Bauten zu schaffen. Molitor ist sich sicher, dass viele der täglichen Pendler auf der vierspurigen Heerstraße den Wert der Häuser gar nicht kennen.
»Ich habe erlebt, dass Leute das Haus, an dem sie jeden Tag vorbeilaufen, auf den Fotos gar nicht wiedererkennen«, erzählt der Fotograf. Dieses Phänomen habe er schon auf der ganzen Welt beobachtet. So war er etwa in Burundi, um die dortige Ausprägung der Bauhaus-Architektur in der Hauptstadt Bujumbara zu dokumentieren. Zur Ausstellung kam dann sogar der Botschafter. »Es war interessant zu sehen, wie die Häuser, die jahrelang unbeachtet genutzt wurden, plötzlich eine Aufwertung erhielten«, erinnert sich der Künstler.
ursprung Genau darum geht es ihm: Er will die Architektur so ästhetisch wie möglich darstellen, um sie so zu ihrem Ursprung zurückzubringen. Die Ergebnisse der Arbeiten sprechen für sich: Mit einem sehr nüchternen Blick, ausgelöst von einer leicht erhöhten Position, hält Jean Molitor die Architektur fest.
»Deutsche Messbildtechnik« nennt er sein Verfahren mit Verweis auf historische Vorbilder. Die Häuser wirken auf den Fotos gleichermaßen steril und erhaben, nur selten sind Menschen auf den Abbildungen zu sehen. Im Mittelpunkt stehen die Architektur und die weltweiten Verbindungen zwischen den Stilen wie Bauhaus, Art déco oder Russischem Konstruktivismus. Eine Art Architekturgeschichte des Alltags möchte er schreiben und die Häuser vor dem Vergessen bewahren.
»Solche Perlen wie Neu-Jerusalem auf der ganzen Welt zu finden, ist mein Ziel«, sagt Molitor. In einem ersten Projektabschnitt widmet er sich verstärkt den Werken jüdischer Architekten und der Bauhaus-Architektur in Israel. Ein bislang noch zu wenig bearbeitetes Gebiet, findet der Fotograf. Könne man doch hier besonders gut die Beziehungen zwischen den Bauhaus-Ursprüngen und den historischen Gründen für seine weltweite Verbreitung zeigen. Um sein ehrgeiziges Projekt umsetzen zu können, sucht er nach Förderern und erstellt Kalender, wie etwa zur Architektur in Burundi oder Israel.
zeitlos In Neu-Jerusalem sind an einigen Häusern die Sanierungsarbeiten schon weit fortgeschritten. »Die Siedlung wird entwickelt«, heißt es aus der Marketingabteilung der zuständigen Immobilienverwaltung. Immer noch ist das Gebiet ein interessanter Platz für die Immobilienbranche. Doch der architektonische Wert steht dabei nicht immer im Mittelpunkt.
Günter Kokoschinski ist da entspannt. Er hat viele Interessenten kommen und gehen sehen. Er gibt dem Fotografen lieber im breiten Berlinerisch Auskunft darüber, wie es früher so war in Neu-Jerusalem.
Bis zum Bauhaus-Jahr 2019 will Jean Molitor möglichst viele Bauwerke fotografiert haben. Denn dann begeht man in Weimar, an dem Ort, wo Walter Gropius einst das »Staatliche Bauhaus« gründete, das 100-jährige Jubiläum des Baustils. »Wie man sieht, ist Bauhaus ja auch nie ganz fertig«, gibt Molitor zu bedenken. »Der Stil ist einerseits klar, andererseits aber auch ungeheuer veränderlich – das macht ihn so zeitlos.«