In der Schmiede des ehemaligen Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof wachsen mittlerweile Birken, von den Mauern stehen zum Großteil nur noch die Fundamente, der Boden ist fast überall mit Gras bedeckt. Und doch verbergen sich hier und im Rest des früheren Lagers Erkenntnisse über den alltäglichen Terror, dem die Gefangenen einst ausgesetzt waren. Das hoffen zumindest Archäologinnen und Archäologen, die in diesem Sommer hier, mitten in den elsässischen Vogesen, Grabungen anstellen.
Die Leitung dieser Operation hat Juliette Brangé inne, Master in Archäologie, gerade einmal 22 Jahre alt. Die Architektur einiger früherer Gebäude habe man schon verstanden, doch viele Fragen seien noch offen: Was genau geschah in dem nahe gelegenen Steinbruch, in dem die Gefangenen schuften mussten? Wozu dienten die Tunnel, die sie in den Berg graben mussten? Und welche Arbeiten mussten sie in der Schmiede verrichten?
Das KZ Natzweiler-Struthof bestand zwischen 1941 und 1944. In dieser Zeit kamen nach Angaben der heutigen Gedenkstätte rund 52 000 Gefangenen hier an - aus ganz Europa. Es waren größtenteils politische Deportierte, aber auch Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie männliche Homosexuelle. Der Großteil von ihnen arbeitete im zugehörigen Steinbruch, viele kamen wegen der unmenschlich harten Arbeit und der schlechten Lebensbedingungen im Lager ums Leben.
Derzeit sind Brangé und 18 Freiwillige mit Grabungen auf einem Streifen zwischen einer alten Lagerhalle und der Schmiede beschäftigt. Hier haben sie schon Überreste eines Teerdachs und einer von den Gefangenen angelegten Straße gefunden. In der Schmiede entdeckten sie den Namen Ivan, den jemand in einen Steinsockel geritzt hat. Und in den Büroräumen unter der Schmiede lässt sich sogar noch erahnen, wo einst Schreibtische und Regale standen, denn die Wandfarbe wurde außen herum gestrichen.
Doch wozu überhaupt Grabungen, wenn es doch noch Archive mit Dokumenten aus der NS-Zeit und Zeitzeugenberichte gibt? Und überhaupt: Ist das zeitlich nicht alles noch viel zu nah, um für die Archäologie interessant zu sein? Claudia Theune, Archäologie-Professorin an der Uni Wien mit Schwerpunkt auf NS-Zwangslager, widerspricht da. »Die Archäologie ist sehr gut, wenn es um das alltägliche Leben geht, auch unter extremen Bedingungen«, sagt sie. »Die Funde geben uns Auskunft für Überlebensstrategien. Darüber berichten in der Regel schriftliche Dokumente wenig. Und auch Zeitzeugen berichten häufig andere Dinge als den Tagesablauf, den alltäglichen Terror.«
Erste Grabungen in ehemaligen NS-Zwangslagern gab es in den 1990er Jahren in Deutschland. Mittlerweile forschen Archäologinnen und Archäologen nahezu europaweit zu diesem Thema, wie Theune sagt. Sie interessieren sich etwa für die Struktur der Gebäude, für die umliegende Infrastruktur, für die Einsatzorte der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen - aber natürlich auch für die persönlichen Gegenstände der Gefangenen.
Besonders bedeutsam für sie als Forscherin seien Objekte, die den Überlebenswillen der Inhaftierten zeigten, sagt Theune. »Unter anderem haben wir selbst gemachte Schuhe gefunden.« Diese seien aus mehreren Lagen Reifenresten zusammengenagelt worden, um die Füße wenigstens ein bisschen zu schützen. Auch hätten sich Insassen selbst Löffel hergestellt, um überhaupt Suppe essen zu können. Und - wohl um ihre Identität nicht ganz zu verlieren - hätten sie Tassen oder Schalen mit ihren Initialen oder ihren Namen versehen. Im KZ Sachsenhausen habe sie ein kleines Holzherz gefunden - »eine Erinnerung, die für wenige Sekunden ein angenehmes Gefühl auslöst? Das ist alles wichtig zum Überleben«, sagt Theune.
Auch Barbara Hausmair, Assistenzprofessorin für Mittelalter- und Neuzeitarchäologie an der Uni Innsbruck, ist überzeugt vom Nutzen der Archäologie für das bessere Verständnis der NS-Zeit. Sie sagt: »Die Idee, dass alles, was den NS-Terror betrifft, gut überliefert worden ist, stimmt so nicht.« Es habe groben Schätzungen des United States Holocaust Memorial Museums zufolge im nationalsozialistischen Deutschland und den von ihm besetzten Gebieten rund 40 000 Zwangslager gegeben - natürlich nicht alles KZs, sondern auch sehr viel kleinere Zwangsarbeitslager mit nur zehn oder hundert Ausgebeuteten. »Man darf sich das nicht immer wie diese ikonischen Bilder von Dachau oder Auschwitz vorstellen.« Diese kleineren Strukturen seien verhältnismäßig noch sehr wenig erforscht. Bei manchen Lagern wisse man nicht einmal, wo sie sich befanden.
Als Archäologin, die schon an diversen ehemaligen Lagern geforscht hat, interessiere sie besonders die Frage: »Welche Handlungsmöglichkeiten hatten eigentlich Menschen, die unter solch extremen Bedingungen gefangen gehalten wurden?« Und da könnten archäologische Funde entscheidende Antworten liefern: Womit wurden die Menschen versorgt? Gab es Möglichkeiten, sich subversiv den Alltag zu verbessern? Konnten die Gefangenen etwa an zusätzliche Nahrung, Genussmittel oder Medikamente gelangen?
Die Archäologie könne aber auch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, den Menschen der Gegenwart vor Augen zu führen, dass die NS-Ausbeutung »nicht versteckt in irgendwelchen Hinterzimmern, sondern oft direkt vor der Haustür passiert ist«. Allein das KZ Natzweiler-Struthof habe im besetzten Elsass, in Baden-Württemberg und anderen Bundesländern ungefähr 50 Außenlager gehabt - die wiederum meist nicht isoliert in der Landschaft gestanden hätten, sondern an Produktionsstätten, Firmen und Infrastruktur angeschlossen gewesen seien. Diese Standorte zu erforschen und sichtbar zu machen, sei von zentraler Bedeutung für die Aufarbeitung.
Im KZ Natzweiler-Struthof soll im kommenden Sommer erneut gegraben werden. Dann will sich Juliette Brangé mit ihrem Team unter anderem den mysteriösen Tunneln widmen.