In der Abteilung für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität sind im Laufe der Jahre schon viele interessante wissenschaftliche Arbeiten entstanden. Die zweimal jährlich erscheinenden »Münchner Beiträge« spiegeln das in ihren Aufsätzen wider. Viele Themen münden auch in Buchpublikationen.
Ein besonders spannendes, in dieser Konstellation jedoch bislang kaum betrachtetes Thema hat sich der Historiker Daniel Mahla vorgenommen: die Entstehung von Ultraorthodoxie und national-religiösem Judentum. Beide entwickelten sich »als voneinander unabhängige Antworten auf die Moderne und vor allem den jüdischen Nationalismus«, erklärt Mahla.
studie Neu an seiner Studie sei jedoch »die Beachtung der gegenseitigen Dynamiken und Beeinflussungen«. Was ein 306 Seiten starkes Buch an Erkenntnissen erbrachte, fasste Daniel Mahla kürzlich in einem Beitrag im »IKG LIVE!«-Studio bündig zusammen. Die weitreichenden Auswirkungen bis in die jüngste Gegenwart erörterte er im Zwiegespräch mit dem aus Washington zugeschalteten Inhaber des Lehrstuhls für Jüdische Geschichte und Kultur, Michael Brenner.
Zunächst aber nahm Daniel Mahla seine Zuhörer mit auf eine Zeitreise von 100 Jahren zurück in die Vergangenheit und beschrieb, wie die beiden größten Bewegungen der jüdischen Orthodoxie mit klaren ideologischen und alltagsbezogenen Unterschieden zustande kamen. »Die religiös-zionistische Bewegung Mizrachi wurde 1902 im zaristischen Wilna gegründet«, wie Mahla ausführte, und »arbeitete mit säkularen Kräften im Zionismus zusammen«.
Die Gründung von Agudat Yisrael 1912 im schlesischen Kattowitz müsse man als Gegenbewegung zum modernen Nationalismus begreifen.
Die Gründung von Agudat Yisrael 1912 im schlesischen Kattowitz müsse man als Gegenbewegung zum modernen Nationalismus begreifen. Beide Richtungen rivalisierten um Anhängerschaft und Einfluss.
pluralismus Während Vielfalt und Pluralismus des jüdischen Lebens in der Schoa untergingen, nahmen Anhänger von Mizrachi wie Agudat Yisrael ihre sehr unterschiedlichen Einstellungen mit nach Palästina und brachten sie nach der Staatsgründung auch in die Parteienlandschaft ein. Der religiöse Zionismus stellte »sozialen und politischen Aktivismus in den Vordergrund«, Agudat Yisrael forderte die Akzeptanz absoluter rabbinischer Autorität für alles, also auch für das Staatsverständnis.
Beide Strömungen wollen das traditionell orthodoxe Judentum vertreten, gehen dabei jedoch seit den 50er-Jahren getrennte Wege. So haben sie beispielsweise ihre eigenen Schulen, Lehrhäuser oder Synagogen und kleiden sich unterschiedlich. Während die einen Hebräisch als Landessprache Israels akzeptierten, lehnen manche ultraorthodoxen Kreise die Sprache des Gebets als Alltagssprache bis heute immer noch ab.
Die Corona-Pandemie hat allerdings den Widerstand gegen das Internet jüngst ins Wanken gebracht. Es setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass Informationsdefizite eine noch größere Gefahr darstellen als unerwünschte Einblicke in areligiösen Alltag. Mahla spricht von »Israelisierung«. Auch die Ultraorthodoxie sei eine Gesellschaft, die sich verändere und fortentwickle. Michael Brenner wünscht seinem Kollegen, der in München das Zentrum für Israel-Studien koordiniert, dass sein Buch bald auch auf Deutsch und Hebräisch erscheinen wird.
Daniel Mahla: »Orthodox Judaism and the Politics of Religion. From Prewar Europe to the State of Israel«. Cambridge University Press, Cambridge 2020, 318 S.