Der offizielle Teil der Veranstaltung endete so, wie es sich Abraham Lehrer bei der Begrüßung der Gäste erhofft hatte: »Suchen Sie das Gespräch untereinander und seien Sie Sender, Multiplikatoren für ein gutes Verhältnis von Juden und Muslimen.« Tatsächlich blieben nach fast zweistündiger lebhafter Diskussion die meisten der rund 100 Besucher noch lange im Gemeindesaal der Kölner Synagogen-Gemeinde (SGK), um sich zu vernetzen und den Dialog zu vertiefen.
Als Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sowie als Mitglied des SGK-Vorstands hatte Lehrer in seiner Funktion als Mitveranstalter sowie Hausherr die sechste Auflage von »Schalom Aleikum« eröffnet. »New School. Jüdisch-muslimisches Gespräch über Antisemitismus an Schulen« war die Debatte überschrieben, die sich in erster Linie an jüdische und muslimische Lehrkräfte wandte. Der Chefkorrespondent des »Kölner Stadt-Anzeiger«, Joachim Frank, moderierte den Abend.
Podiumsdiskussion Dabei ging es während der Podiumsdiskussion um Erfahrungsberichte und Strategien zur Prävention von Antisemitismus an Schulen ebenso wie um den Umgang mit den Phänomenen der herkunftsbezogenen Diskriminierung oder Radikalisierung im Schulalltag. Islamophobie und Antisemitismus sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, leitete Abraham Lehrer in die Diskussion ein.
Wie bedeutend der Diskurs über den Antisemitismus unter Jugendlichen im schulischen Umfeld sowie die Sensibilisierung des pädagogischen Personals hierfür ist, hatte kürzlich zudem Zentralratspräsident Josef Schuster hervorgehoben. »Das Problem ist, dass Lehrer weder im Studium noch in ihrer weiteren Ausbildung wissen, was zu tun ist, wenn auf dem Schulhof ›Du Jude‹ als Schimpfwort benutzt wird.«
»Grundwurzeln für Diskriminierung oder Antisemitismus liegen in der Sozialisierung der Schüler«, sagt Mutlu Yolasan.
Nehmen Lehrer etwa den Antisemitismus nicht wahr, weil sie nicht wissen, was darunter zu verstehen ist? »Damit müssen wir uns intensiv beschäftigen, denn eine entsprechende Leitlinie fehlt«, räumte Mutlu Yolasan ein. Der aus einer muslimischen Familie stammende Lehrer an einer Gesamtschule in Neuss betonte aber auch: »Grundwurzeln für Diskriminierung oder Antisemitismus liegen in der Sozialisierung der Schüler, und es wäre zu einfach, zu glauben, dass wir das in der Schule lösen können.«
Sein Kollege Mouhcine El Amaraoui nahm dies auf und ergänzte: »Wir können das nur in enger Kooperation mit dem Elternhaus aufbrechen.« Der Lehrer an einem Kölner Gymnasium machte zudem deutlich, wie schwierig es mitunter für Pädagogen ist, Formen des Antisemitismus beispielsweise anhand bestimmter Formulierungen zu erkennen und dann entsprechend sensibel zu reagieren. Rachel Polonskij fügte hinzu: »Antisemitismus ist oft nicht direkt zu erkennen, weil es sich vielfach um eine innere Einstellung handelt, die so nicht bekannt ist.«
Konsequenz Die Pädagogin an einem Gymnasium in Mönchengladbach berichtete von zwei Vorfällen, die sie im Schulalltag erlebt habe und die durch die konsequente Reaktion von Lehrern und Schulleitung mit den Schülern und deren Eltern aufgearbeitet werden konnten. Mascha Kogan, ebenfalls Lehrerin in Neuss, mahnte in diesem Zusammenhang an, dass nicht nur die Schule, sondern die gesamte Gesellschaft die Aufgabe habe, »grundsätzlich über jegliche Form von Diskriminierung aufzuklären«.
Doch was ist mit Eltern, die sich im Gespräch mit den Vertretern der Schule einsichtig zeigen, aber zu Hause den Kindern weiter ihre antisemitische Haltung weitergeben? Was ist mit Lehrern, die ihren eigenen Antisemitismus nicht wahrnehmen? Wie sollte mit zweifelhaften oder undifferenzierten Lehrmaterialien umgegangen werden? Welche Rolle spielen überhaupt die verschiedenen Lebenswelten und -umstände von Jugendlichen, von denen die Schule nur eine darstellt?
Erfahrungen Diese und viele weitere Fragen wurden in der etwas ausufernden Diskussion gestellt. Viele Gäste berichteten dabei zwar sehr offen über eigene Erfahrungen und Befindlichkeiten. Andererseits zeigte dies aber auch, wie schwierig es nicht zuletzt aufgrund der unterschiedlichen Formen von Diskriminierung und Antisemitismus an Schulen ist, einen mehrdimensionalen und zielführenden Dialog aufzusetzen.
Denn darin waren sich die Pädagogen alle einig: Das Gespräch muss auf allen Ebenen geführt werden. »Dazu gehört auch«, sagte Yolasan, »Schülern die Gelegenheit zu geben, ihre Gedanken auszusprechen, manches dann auszuhalten, nicht gleich mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern im Dialog zu klären.«
Stilleräume Aus dem Publikum kam hierzu beispielsweise der Vorschlag, an Schulen interreligiöse Räume der Stille einzurichten, um Begegnungen und auch das Gespräch über Grenzen und Vorurteile hinweg zu ermöglichen.
Was ist mit Lehrern, die ihren eigenen Antisemitismus nicht wahrnehmen?
Ein Zuhörer erinnerte aber auch an eine andere, eher negative Form des Dialogs »mit wirkmächtigem Diskursraum«, nämlich die sozialen Medien. »Social Media können durch ihre Reichweiten bestimmte Stereotypen verstärken oder Stimmungen wie etwa antisemitische Strömungen aufgreifen und sehr weit streuen.«
Ein anderer Vorschlag war, in Schulen neben den Vertrauenslehrern auch eine Lehrkraft als Diskriminierungsbeauftragten einzusetzen. Dieser sollte jeweils am Schulanfang in der fünften Klasse eine verpflichtende Lehreinheit für Schüler und Lehrer durchführen, um sich mit Formen von Diskriminierung auseinanderzusetzen.
Kontext Der Vertreter einer muslimischen Einrichtung mahnte an, »dass wir uns auch im innermuslimischen Kontext viel stärker mit antisemitischen Tendenzen auseinandersetzen müssen«. Unterm Strich: Die gelöste Stimmung, die bei den Gesprächen nach der Veranstaltung im Gemeindesaal auszumachen war, lässt darauf hoffen, dass diese und noch viele andere Ideen bei dieser Auflage von »Schalom Aleikum« weiter diskutiert wurden – und werden.
Bei dieser vom Zentralrat initiierten Reihe geht es schließlich darum, interreligiöse Begegnungen und offene Dialoge von jüdischen und muslimischen Akteuren, von Menschen vor Ort und an der Basis, eben abseits des Austauschs von hochrangigen Funktionären aus Institutionen und Organisationen, zu ermöglichen.