In der jüdischen Mystik gelten die 22 hebräischen Buchstaben als Bauplan für die ganze Schöpfung. Mehr noch, meint Tuvia ben Avraham: Jedes der Zeichen hat einen Zahlenwert, wird mit bestimmten Geschichten assoziiert und manchmal wie eine eigene Person dargestellt. Die Besucher der Esslinger Synagoge reagieren staunend bis irritiert auf die Aussagen. Jüdische Mystik ist ihnen neu, die spielerischen Gedankengänge teilweise schwer nachvollziehbar. Doch die Mystik bleibt nicht abstrakt.
Mit schwarzer Tinte und anderthalb Zentimeter breiten Federn dürfen die Besucher selbst hebräische Buchstaben zeichnen. Weiße Einwegdecken schützen die Tische vor Farbklecksen. Einer, der das Gelernte besonders schnell umsetzt, ist Andreas Glasa, ein Graffiti-Fan aus Altenriet bei Stuttgart. In einem Rutsch verbindet er die breiten Striche des Buchstabens Ajin mit dünnen horizontalen Linien. Die Bewegungsabläufe seien ähnlich wie die beim Graffiti, meint er.
Tuvia ben Avraham, bekannt auch unter dem Namen Tobias Christ, läuft durch die Reihen und erzählt kleine Geschichten zu den Buchstaben. Der 42-Jährige mit Kippa, Schläfenlocken und rotem Vollbart hat lange für die Diakonie mit Jugendlichen gearbeitet.
Heute bietet er regelmäßig Kurse an, auch für Schulklassen
Dort lernte er durch Kollegen die Kunsttherapie kennen – und verband den Ansatz mit seiner Liebe für hebräische Kalligrafie: »Ich habe verstanden, dass das eine Brücke schafft, dass man sich anders mit dem Judentum identifiziert, wenn man mal ein Zeichen geschrieben hat.«
Heute bietet er regelmäßig Kurse an, auch für Schulklassen. Weil Kalligrafie im Judentum und Islam als eigene Kunstrichtung gilt, Christen aber meist unbekannt ist, habe sie auch ein hohes Potenzial für interreligiöse Begegnungen, sagt er. Sie biete einen sinnlichen Zugang zur Religion.
Auch Norbert Befurt, der sich um die Sicherheit der Gemeinde kümmert, ist zum Kalligrafie-Kurs gekommen. Seit ein paar Jahren hat die alte Esslinger Synagoge schusssichere Fenster und verstärkte Wände, erzählt er. Seither fühle sich das Gebäude an wie eine Festung. Am Schabbat ist sein Arbeitsplatz die Sicherheitsschleuse. »Früher hat man die Leute schon draußen, auf der Straße gegrüßt. Jetzt drücke ich Knöpfe, um die Leute in der Sicherheitsschleuse zu empfangen.«
Gemeinsam mit dem Gemeinderabbiner Marc Pavlovsky hält Avraham eine meterlange Schriftrolle in die Luft. »Eine vollständige Torarolle besteht aus genau 304.805 Buchstaben«, sagt der Rabbiner. Damit keiner fehlt und sich keine Fehler einschleichen, kämen dafür heute auch digitale Methoden zum Einsatz. Aber Ausdrucken ist tabu. Jede Torarolle für den Gottesdienst muss von Hand geschrieben sein. Dafür gibt es im Judentum den Sofer. Die Esslinger Gemeinde hat ihre Torarolle seit 2016, nachdem die letzte Rolle während der Pogromnacht 1938 zerstört worden ist.
Eine Synagoge ohne eigene Schriftrolle?
Eine Synagoge ohne eigene Schriftrolle? Auch das ist eigentlich ein Unding. Deshalb ergriff die Stadtgemeinschaft die Initiative: Binnen eines knappen Jahres sammelten 18 Esslinger Vereine und Institutionen gut 40.000 Euro an Spenden – darunter auch die christlichen Kirchen und zwei Moscheevereine. Aus der Freude über die Spendenaktion entstanden damals auch die jährlich stattfindenden jüdischen Kulturtage. Avrahams Kalligrafie-Kurse gehören dazu.
Als der Kurs endet, packen die Besucher nicht nur prall gefüllte Blätter mit eigenen Schreibversuchen ein. Auch ein paar Kunstwerke von Tuvia ben Avraham wechseln den Besitzer. In den vergangenen Stunden hat der Begriff »Schriftreligion« für viele eine ganz neue Bedeutung bekommen.