Ich habe mir geschworen, dass ich im Alltag nicht die Psychotherapeutin spielen werde. Und jetzt bin ich zuständig für ein Stadtviertel in Ulm mit den meisten AfD-Wählern. Ich muss mich also fragen, warum Ulmer Bürgerinnen und Bürger die AfD wählen.
Natürlich interessieren mich deren Motive. Ich denke, der Antreiber ist Angst. Sie glauben, dass sich ihre Lebensgrundlage durch die Einwanderung verändert. Auch wenn sie selbst eingewandert sind. Sie kommen, wollen die Demokratie nutzen, und dann soll am besten hinter ihnen eine Tür zugehen, damit niemand mehr ins Land hineinkommt. Reagiert die aktuelle Politik nicht nach ihren Wünschen, sagen sie: Man nimmt unsere Ängste nicht ernst.
Doch am besten erzähle ich von Beginn an. Letztes Chanukka hat mich Michael Joukov angesprochen, ob ich mir vorstellen könnte, für die Grünen im Ulmer Gemeinderat zu kandidieren. Michael ist seit 2021 Abgeordneter der Grünen-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg. Er ist der erste jüdische Landtagsabgeordnete seit Gründung des Landes Baden-Württemberg. Ich selbst bin parteilos. Aber meine Werte stimmen mit denen der Grünen überein: Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, Gleichberechtigung, nachhaltige Politik. Viel Zeit hatte ich nicht um nachzudenken – nur wenige Wochen. Aber ich habe sie mir genommen. Denn Michael hatte einen Denkprozess angestoßen, den ich nicht mehr stoppen konnte.
Eine intensive Zeit
Der Wahlkampf war eine intensive Zeit. Flyer verteilen, auf Wochenmärkten erscheinen, an Podiumsdiskussionen teilnehmen. Und es war ganz bestimmt nie mein Traum, dass mein Konterfei überall in der Stadt hing. Ständig hatte ich die Angst, dass mir jemand »Free Gaza« aufs Wahlplakat schreibt. Warum machst du das?, wurde ich von etlichen gefragt. Aber die meisten meiner Freunde fanden es cool.
Seit 1986 gibt es bei den Grünen eine Frauenquote. Alle Gremien müssen mindestens zur Hälfte mit Frauen besetzt sein und auf allen Wahllisten ebenso viele Frauen wie Männer aufgestellt werden. Die ungeraden Zahlen – und damit auch der Listenplatz 1 – sind Frauen vorbehalten. Der dritte Listenplatz ist für Frauen und Neulinge reserviert, auf diesem Listenplatz kandidierte ich, und mit den drittmeisten Stimmen der Grünen-Liste in Ulm wurde ich schlussendlich auch gewählt.
Ich hoffe, ich kann Menschen helfen, glücklicher zu werden.
Seit Juni sitze ich für die Grünen im Gemeinderat in Ulm. Meine Themen sind Stadtgesellschaft und Vielfalt, das bedeutet, ich vertrete die Grüne Fraktion im Fachausschuss Bildung und Soziales sowie in vielen anderen Gremien. Das Amt ist zeitintensiv, gibt mir aber auch sehr viel zurück. In Baden-Württemberg sind die Grünen die stärkste politische Macht. Und dass wir in Ulm bei 40 Sitzen im Gemeinderat nur zwei Abgeordnete von der AfD haben, stimmt mich froh. Die haben es im Wahlkampf nicht einmal geschafft, eine Liste aufzustellen.
Alle nennen mich Lisa
Mein ukrainischer Vorname ist Yelizaveta. Aber alle nennen mich Lisa. Geboren bin ich in Odessa. Als ich drei Jahre alt war, kam ich mit meinen Eltern und meinem sechs Jahre älteren Bruder nach Deutschland. Aufgewachsen bin ich in Aalen, einer Stadt mit 68.000 Einwohnern. Meine Eltern mussten sich erst einmal zurechtfinden. Ihre Diplome wurden nicht anerkannt, also studierten sie teilweise noch einmal neu.
Den Kindergarten und die Schule besuchte ich in Aalen. Seit 2019 studiere ich an der Uni Ulm, zunächst im Bachelorstudiengang Psychologie. Da mein gewünschter Masterstudiengang noch nicht in Ulm angeboten wurde, entschied ich mich, einen Freiwilligendienst zu machen. So arbeitete ich ein Schuljahr lang in der ehemaligen Jüdischen Grundschule Stuttgart, der heutigen Eduard-Pfeiffer-Schule. Dank meines Abschlusses durfte ich bereits manche Unterrichtseinheiten übernehmen. Ich beschäftigte mich insbesondere mit den Kindern, die aus der Ukraine geflüchtet waren.
Ich habe mich sehr darüber gefreut, die Theorie aus meinem Bachelorstudium endlich in die Praxis umzusetzen. Inzwischen bieten Baden-Württemberg und die Ulmer Uni auch meinen gewünschten Masterstudiengang an: Klinische Psychologie und Psychotherapie. Mit diesem Studium werde ich zur Approbationsprüfung als psychologische Psychotherapeutin zugelassen.
Das Studium dauert bis dahin etwa fünf Jahre, aktuell befinde ich mich im Praktikum. Ein Motiv für die Studienwahl ist ganz sicher, dass ich mir die Frage stelle, warum sich Menschen verhalten, wie sie sich verhalten. Mit der Antwort bin ich während des Studiums schon ein wenig weitergekommen: Menschen haben viele Bedürfnisse, auch verdeckte. Und nicht so selten steht die Lebensrealität den Wünschen konträr entgegen.
Jetzt höre ich Lebensgeschichten
Im Praktikum begleite ich Patientinnen und Patienten. Sie sind entweder stationär aufgenommen worden oder kommen in die Tagesklinik. Ich bin bei Entspannungsübungen dabei sowie in Gruppen- und Einzelsitzungen. Ich lerne sie näher kennen. Ihre Diagnose bekomme ich auf dem Papier. Jetzt höre ich Lebensgeschichten. Ich hoffe, ich kann Menschen helfen, glücklicher zu werden. Denn alle haben irgendwie dasselbe Ziel: ein lebenswertes Leben zu führen.
Aber schon jetzt weiß ich: Nicht alles lässt sich heilen, aber mildern. Da ist zum Beispiel ein Mensch, der einen Unfall hatte. Vielleicht konnte man seine Knochen heilen, aber seine Schmerzen sind noch da. Ist dieser Mensch auch noch stark angespannt, wird er vielleicht seine Schmerzen stärker empfinden als in einem Zustand der Entspannung. Ähnlich verhält es sich bei Menschen, die selten in ihrem Leben Emotionen zeigen konnten – häufig manifestieren sich diese Emotionen stattdessen in körperlichen Empfindungen.
Eine eigene Form der Therapie ist die Psychoedukation. Ihre Methoden werden angewendet, um das Krankheitsverständnis und die -bewältigung zu verbessern. Dazu dient auch die Selbstfürsorge und eine mögliche Verbesserung des Selbstwerts. Allgemeine Lebensangst ist keine psychische Erkrankung. Aber sie wird zur Erkrankung, sobald die Angst den Alltag sowie soziale Beziehungen einschränkt. Obwohl Angst als Emotion überlebenswichtig ist, da sie uns vor gefährlichen Situationen schützt, kann sie uns auch unfähig machen.
Meine Zukunft sehe ich in Stuttgart. Dort lebt auch mein Freund. Mit ihm bin ich seit sieben Jahren zusammen. Im Jugendzentrum »Halev« der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) habe ich zum ersten Mal Menschen getroffen, die Ähnliches wie ich erlebten. Sehr selten fragen wir uns: Bin ich jüdisch, deutsch, ukrainisch, russisch? Alle wohnen wir in Deutschland. Alle haben so viele Identitäten, die wir vereinen müssen, vielen von uns hat das die Identitätsfindung in unserer Jugend schwieriger gemacht. Wir sind so wenige, warum sollten wir uns »bekriegen«?
Unsere Großeltern und Eltern haben ähnliche Werte
Unsere Herkunft ist ähnlich, unsere Großeltern und Eltern haben ähnliche Werte, die die heranwachsende Generation betreffen. Man ist herzlich, aber auch schroff. Erwartet wird, dass die Familie beieinander bleibt, dass die Kinder klassische Musik lieben und möglichst auch spielen (ich habe kein Instrument gelernt, aber Ballett getanzt), dass sie Enkel und Urenkel haben. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich mehr lesen, Yoga machen, kreativ sein. Manches davon habe ich in meiner Zeit im Jugendzentrum gemacht, wo ich zehn Jahre als Madricha gearbeitet habe. Dort spielen wir Brettspiele, machen Ausflüge und kochen gemeinsam. Wenn möglich, koche ich ohne Tierprodukte.
Seit dem 7. Oktober 2023 ist jüdisches Leben in Deutschland schwieriger geworden. Auch im Freundeskreis. Ich möchte Freundschaften nicht reduzieren auf absolute Werte. Oder wenn ich in Diskussionen hören muss, dass Israel im Nahostkonflikt alles falsch macht. Menschen haben unterschiedliche Informationsquellen, Anliegen und Werte. Was können wir selbst gegen unsere Ängste tun? Wir müssen nicht unser Leben komplett umkrempeln.
Jüdinnen und Juden in Deutschland werden immer noch exotisiert. Auch das produziert Hilflosigkeit. Insgesamt interessieren sich aber viele meiner Freundinnen und Freunde für das Judentum und auch dafür, wie ich »mein Judentum« lebe. Diese Fragen beantworte ich meistens gern, und sie führen zu interessanten Gesprächen und Vergleichen.
Ich engagiere mich außerdem bei der Jüdischen Studierendenunion Württemberg im Vorstand und beim Projekt »Meet a Jew« des Zentralrats der Juden. Wie oft ich da jetzt schon unterwegs war, kann ich schon gar nicht mehr zählen.
Aufgezeichnet von Brigitte Jähnigen