Der drohende Einmarsch Russlands in die Ukraine besorgt und ängstigt derzeit weltweit viele Menschen. Wie aber ergeht es denjenigen, die als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland kamen, aber noch Familie und Freunde vor Ort haben? »Man darf jetzt nicht pessimistisch sein«, sagt Max Privorozki, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Halle. »Putin riskiert, einen neuen Weltkrieg zu beginnen – es gibt keine andere Wahl, als optimistisch zu sein.«
Privorozki ist in Kiew geboren, »aber es geht doch jetzt nicht darum, aus welcher Stadt man kommt und in welchem Land sie jetzt liegt, sondern es geht um den Kampf, der jetzt weltweit stattfindet: totalitäre Autokratie gegen Demokratie.« Antidemokratische Länder wie Russland und China versuchten derzeit, »nachzuweisen, dass die Demokratie ein Fehler ist«.
Appeasement Das ist es jedoch nicht allein, was Max Privorozki besorgt: »Putin-freundliche Parteien links und rechts versuchen in Deutschland, das Vorgehen des Mannes zu rechtfertigen.« Und dann sei da ja auch noch »der Altkanzler, bei dem alle versuchen zu vergessen, dass er noch in der SPD ist. Das ist eine Schande, dass solche Leute noch als Gesicht Deutschlands wahrgenommen werden«.
Privorozki hofft, dass die geplante Gaspipeline Nord Stream 2 aufgegeben wird. »Es muss einfach irgendwann gesehen werden, welche Gefahr sich da im Osten aufbaut«, sagt er. »Diese Appeasement-Politik muss enden, und ich spreche da nicht nur als Jude.«
Putin werde versuchen, maximalen Druck auszuüben, »es kann sein, dass er auch mit dem Einsatz von Atomwaffen droht, wie es einige aus seinem Umfeld schon getan haben«. Aber im Grunde wisse er, »dass Russland schwächer ist als die NATO. Und deswegen muss der Westen hart bleiben und darf keinen Schritt zurück machen, denn sonst endet es nie«.
Gemeindemitglieder Aber ergreifen die Gemeindemitglieder, die aus dem heutigen Russland und der heutigen Ukraine stammen, jetzt Partei für die eine oder andere Seite? »Es gab 2014 und 2015 durchaus Konflikte«, erklärt Privorozki. »Aber ich habe ihnen gesagt, dass wir in Deutschland sind und jetzt hierhergehören, und wenn wir zu einem weiteren Land stehen, dann ist das Israel.«
Er sei »schon seit Tagen ziemlich wütend«, sagt Yuriy Gurzhy. Der Musiker, DJ und Autor des gerade erschienenen Buches Richard Wagner und die Klezmerband lebt in Berlin, ist aber in der ukrainischen Stadt Charkiv aufgewachsen, die nahe der russischen Grenze liegt.
»Wir haben Angst, wir sind wirklich sehr besorgt.«
Alexander Stoler, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Offenbach
Wütend sei er über die Wahrnehmung im Westen, besonders der Medien. »Sie haben das, was in der Ukraine passiert, lange verharmlosend Konflikt genannt. Ein Konflikt liegt vor, wenn du deinem Kind sagst, es soll um neun Uhr zu Hause sein und es aber erst am nächsten Morgen, und dann auch noch betrunken, kommt«, sagt er und erklärt weiter: »Es ist ein Krieg, und das schon seit acht Jahren. Ein Krieg, der mehr als 12.000 Menschen das Leben gekostet hat und durch den Hunderttausende flüchten mussten.«
grenzen Jetzt habe er zum ersten Mal das Gefühl, dass Europa aufwache. »Und das war höchste Zeit«, findet Yuriy Gurzhy, denn »wenn Putin jetzt nicht Einhalt geboten wird, wer weiß, welches Land als Nächstes dran ist, Polen vielleicht, oder Deutschland.« Krieg kenne keine Grenzen, und deswegen bestehe nicht nur für die Ukraine Gefahr, sondern auch für Europa und die ganze Welt.
In den vergangenen zwei Jahren arbeitete Yuriy Gurzhy bei einem ukrainisch-deutschen Theaterprojekt mit Kindern und Jugendlichen in der im Osten des Landes gelegenen sogenannten grauen Zone. »Die Jungen und Mädchen haben Schreckliches erlebt«, berichtet er, »kein Kind und auch kein Erwachsener sollte so etwas jemals erleben müssen.« Auch um ihretwillen hofft er, dass der drohende russische Einmarsch noch verhindert werden kann, Deutschland sollte endlich Waffen liefern und außerdem »Nord Stream 2 stoppen, sofort«, wünscht er sich.
Bei seinen Freunden und Verwandten sei die Stimmung angespannt, gleichzeitig bewahrten sie allerdings die Ruhe, berichtet Gurzhy weiter. »Sie haben eben in den letzten acht Jahren gelernt, auf diesem Pulverfass zu sitzen.« Zugleich hätten sie »natürlich einen Plan B, sie sind bereit, ihr Land zu verteidigen«.
kampfgeist »Am letzten Wochenende war die Vorentscheidung zum European Song Contest, wie hat man da gestritten, über die Siegerin und über die anderen Kandidaten, man merkte, das war eine willkommene Abwechslung«, erzählt Yuriy Gurzhy. Eine der wichtigsten Funktionen von Kultur sei es eben, auf der einen Seite für Abwechslung zu sorgen und auf der anderen »den Kampfgeist zu stärken«. Gurzhy stutzt kurz: »Wie brutal das Wort Kampfgeist hier im alltäglichen deutschen Kontext klingt – und wie normal es sich in der Ukraine anhört.«
»Wir haben Angst, wir sind wirklich sehr besorgt«, sagt Alexander Stoler, Mitglied der Jüdischen Gemeinde Offenbach. Er ist in der Ukraine geboren, in Czernowitz. »Die Stadt nahe der rumänischen Grenze ist bis heute jüdisch geprägt«, erzählt er. Freunde und Familie leben noch in der Ukraine. Natürlich wisse im Moment niemand, ob Russland tatsächlich einmarschiere, man könne nur das Beste hoffen – und die Nachrichten verfolgen sowie Kontakt zu den Freunden und Familienmitgliedern in der Ukraine halten. »Oft sind Informationen von den Leuten vor Ort, aus erster Hand, viel aussagekräftiger und faktenreicher als zum Beispiel die deutschen Nachrichten«, hat Alexander Stoler festgestellt.
Für die meisten seiner jüdischen Freunde, Russen wie Ukrainer, sei das aktuelle Geschehen »sehr nahe, niemand wagt eine Prognose, wie das Ganze endet«. Für Stoler kommt noch dazu, dass er für den Sommer einen Fußballcup für Kinder aus benachteiligten Verhältnissen in Czernowitz plant, »im Falle eines Krieges könnte der natürlich nicht stattfinden, dabei wäre das für die Kids vor Ort doch so wichtig«.
»Mich macht das alles nervös und unglücklich, dabei bin ich in Sicherheit.«
Anatoli Nat Skatchkov, Regisseur in Frankfurt
In dieser angespannten Situation fühlt sich Stoler von seinen deutschen Freunden im Übrigen nicht sehr verstanden. »Viele Menschen in Europa denken, dass in der Ukraine alles Friede, Freude, Eierkuchen ist – dabei ist dort seit 2014 Krieg.« Dazu gebe es für viele Deutsche »einfach nur Russen. Selbst wir Kontingentflüchtlinge, von denen die meisten in der Sowjetunion geboren sind, sind für sie alle Russen«. Da sei es oft schwer, über die eigenen Ängste in Bezug auf die Ukraine zu sprechen. »Ich würde es so zusammenfassen: Die Deutschen haben andere Sorgen, nämlich Corona, und unsere Familien in der Ukraine sorgen sich ums Überleben. Und um Corona.«
Nachrichten Der Regisseur Anatoli Nat Skatchkov lebt in Frankfurt am Main, ist aber im ukrainischen Czernowitz geboren und in Sibirien aufgewachsen. Seine Familie sei mittlerweile »ausgewandert, aber ich habe noch Freunde und Kollegen, die in der Ukraine leben«. Und um sie mache er sich im Moment große Sorgen. »Einige leben dort, wo ein Einmarsch wahrscheinlich stattfinden würde, andere sind noch traumatisiert, weil sie aus ihrer Heimat in einen anderen Teil des Landes flüchten mussten und jetzt schon wieder vor der Entscheidung stehen, ob sie ihre Sachen packen sollten.«
Und hinzu komme noch die Frage, was man im Ernstfall tun werde, also »zum Beispiel, ob man sich auf einen Partisanenkrieg vorbereitet«. Das Erste, was er nach dem Aufwachen tue, sei nach aktuellen Nachrichten zu suchen, sagt Anatoli Nat Skatchkov. »Mich macht das alles nervös und unglücklich, dabei bin ich in Sicherheit.«
Überdies beschäftige ihn im Moment »ein Luxusproblem, das mir aber sehr zu schaffen macht: Im März soll ich eigentlich nach Sibirien fliegen, um einen Film über die einzige Soldaten-Synagoge dort zu drehen«. Erbaut wurde das Holzgebäude Ende des 19. Jahrhunderts von einem jüdischen Kantonisten, also einem Jungen, der wie viele andere aus den Schtetln zwangsweise zur russischen Armee verpflichtet wurde.
»Trotz des immensen Drucks war er der Einzige, der nicht zum orthodoxen Glauben konvertiert war«, erzählt Anatoli Nat Skatchkov. Darauf, einen Film zu machen über die Geschichte dieses Soldaten und der Synagoge, die heute einer kleinen jüdischen Gemeinde gehört, habe er sich schon sehr gefreut. »Aber nun ist alles ungewiss, werde ich dorthin fliegen können, und wenn ja, ist es moralisch vertretbar? Aber das ist, wie gesagt, ein Luxusproblem im Vergleich zu den Sorgen und Ängsten der Menschen in der Ukraine.«