»Bitte bleiben Sie sitzen«, sagt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, als er zu seinen Gästen am runden Tisch im Schloss Bellevue schreitet. Wenige Minuten vor ihm hatten Jüdinnen und Juden sowie eine Muslima und mehrere Muslime dort Platz genommen. Sie waren am Mittwoch vergangener Woche zusammengekommen, um über »Krieg in Nahost: Für ein friedliches Miteinander in Deutschland!« zu diskutieren. Es soll um Antisemitismus, Hass und Hetze gehen, die seit dem 7. Oktober auch in Deutschland wieder verstärkt zutage treten.
Als Ehrengast wird die Schoa-Überlebende und Zeitzeugin Margot Friedländer das erste Wort nach der Ansprache des Bundespräsidenten haben, doch bevor Friedländer spricht, gratuliert der Bundespräsident der 102-Jährigen zu ihrem Geburtstag und überreicht ihr einen Blumenstrauß. Erst dann geht er um den Tisch, um alle weiteren Gäste zu begrüßen. Sie alle engagieren sich in Projekten für Verständigung und gegen Hass.
Als Ehrengast ist die Schoa-Überlebende und Zeitzeugin Margot Friedländer geladen.
Und sie alle hören – wie auch das Publikum, das den Livestream verfolgt – wie sich die Welt Steinmeiers schlagartig änderte, als er von den Angriffen der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober erfuhr. Der Bundespräsident war gerade aus den USA zurückgekommen und hatte bis zu diesem Zeitpunkt den angekündigten Gesprächen mit Saudi-Arabien optimistisch entgegengesehen – bis ihn die Nachrichten erreichten. »Der Krieg hat auch Auswirkungen auf unser Land, auf unser Zusammenleben in Deutschland. Wir spüren es.«
In seiner Ansprache verurteilt er den Antisemitismus aufs Schärfste und drückte Jüdinnen und Juden gegenüber sein Mitgefühl aus. »Antisemitische Volksverhetzung, Angriffe auf Synagogen, das Verbrennen von israelischen Flaggen müssen als Straftaten strikt verfolgt und bestraft werden.« Und: »Wir werden keinen alten und keinen neuen Antisemitismus, keinen christlichen und keinen muslimischen, keinen linken und keinen von rechts dulden.«
Er sagt aber auch mit Blick auf die palästinensische Gemeinschaft: »Sie alle sollen Raum haben, um ihren Schmerz und ihre Verzweiflung über die zivilen Opfer in Gaza zu zeigen, mit anderen zu teilen.« Weiter meint er: »Das Recht, das öffentlich und friedlich zu tun, ist von unserer Verfassung garantiert.« Es dürfe auch keinen antimuslimischen Rassismus und keinen Generalverdacht gegen Muslime geben. »Ich bitte Sie, die Menschen mit palästinensischen und arabischen Wurzeln in Deutschland: Lassen Sie sich von den Helfershelfern der Hamas nicht instrumentalisieren.« Steinmeier fordere sie zu einer klaren Distanzierung von Antisemitismus und der Terrororganisation Hamas auf. »Terrorismus, Volksverhetzung und der Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel haben keinen Platz in Deutschland, und ich erwarte, dass wir gemeinsam dagegenhalten.«
Nach der Rede des Bundespräsidenten steht das gemeinsame Gespräch im Mittelpunkt. Eine seiner ersten Fragen geht an Michael Fürst, den Vorsitzenden des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Niedersachsen, von dem er wissen möchte, ob er mit dem Vorsitzenden der palästinensischen Gemeinde in Hannover, Yazid Shammout, wieder in ein Drachenboot steigen würde. Beide bejahen.
»Weitermachen ist der einzige Weg. Wir bleiben dran.«
Dmitrij Belkin
Zusammen nahmen Fürst und Shammout vor einiger Zeit an der Aktion »Wir sitzen alle in einem Boot« teil, bei der gegen Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Rechtsextremismus und Religionsfanatismus Signale gesetzt werden sollten. »Wir haben Respekt voreinander und hören uns zu«, sagt Fürst. Wenn Yazid sage, dass er aus Jaffa vertrieben wurde, dann diskutiere er nicht, ob er vertrieben worden oder weggegangen sei. »Wir widersprechen uns nicht trotz unterschiedlicher Auffassungen.« Seit 13 Jahren seien sie nun befreundet und seien auch schon einmal zusammen nach Jordanien gereist.
Am Tisch sitzen auch Dmitrij Belkin, Historiker, und Akın Şimşek, Politikwissenschaftler. Belkin ist Leiter und Şimşek Projektkoordinator der »Denkfabrik Schalom Aleikum« des Zentralrats der Juden. Mit dabei: Jalil Dabit und Oz Ben David, ein arabischer und ein jüdischer Israeli, die zusammen in Berlin ein Restaurant betreiben. Außerdem: Rabbiner Elias Dray und der Imam Ender Cetin, die sich für »Meet
2Respect« in Schulen vorstellen, wie auch Shai Hoffmann, der israelische Wurzeln hat, und Jouanna Hassoun, die in Palästina geboren wurde. Alle hören aufmerksam zu.
Derviş Hızarcı von der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) merkt man seine Betroffenheit an. Nach Feiern ist dem Pädagogen nicht zumute, auch wenn es dazu einen guten Grund gäbe, wurde die Initiative doch vor 20 Jahren gegründet. Aber erst kürzlich haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter das KIgA-Schild abmontiert – aus Sicherheitsgründen. »Mein Herz blutet«, sagt er. Seit Jahrzehnten engagiert er sich gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung. Die Anfragen nach Unterstützung und Beratung hätten sich seit dem 7. Oktober vervielfacht. Die KIgA-Mitarbeiter bilden Lehrer aus und kommen auch in die Schulen. Mit der aktuellen Situation seien die Pädagogen überfordert. »Prävention bedeutet Bildung«, sagt Hızarcı, der in Neukölln aufgewachsen ist.
Die Denkfabrik »Schalom Aleikum« forscht zum Dialog
Lehrern falle es mittlerweile schwer, noch zu ihren Schülern durchzukommen. »Viele arabische Jugendliche haben sich hier immer wohlgefühlt, nun sind sie verzweifelt. Sie fragen sich, ob sie hier noch einen Platz haben«, sagt die Sozialmanagerin Jouanna Hassoun von dem Verein Transaidency bewegt, die zusammen mit Shai Hoffmann ebenfalls Schulen aufsucht. Auch hier habe sich die Nachfrage vervielfacht. »Wir haben alles stehen und liegen gelassen, um in die Schulen gehen zu können, auch wenn es manchmal zeitlich für uns schwer wird.« Es sei derzeit mehr als ein Vollzeitjob. »Aber wir wissen, dass unsere Arbeit wirkt«, sagt Hızarcı.
Nach der Coronapandemie und dem Krieg in der Ukraine sei es die größte Krise, die »ich bis jetzt hatte«, sagt Rabbiner Dray. Er mache sich Sorgen um die Demokratie in Deutschland. Politische Bildung sei wichtig. Das Gespräch habe Realitäten offengelegt, mit denen umzugehen alle lernen müssen, sagte Belkin nach der offiziellen Runde. Vorher hatte er das Konzept der Denkfabrik erläutert. »Wir arbeiten an der Erforschung gesellschaftlicher und politisch relevanter Themen, die aus jüdischer, muslimischer und christlicher Perspektive diskutiert werden.«
Die Denkfabrik möchte Debatten anregen und Impulse geben für gesellschaftliche Veränderungen. »Wir werden nun gefragt: Seid ihr sicher, dass ihr weitermachen wollt?«, so Belkin im Schloss Bellevue. Die Antwort ist für ihn und Akın Şimşek klar: »Weitermachen ist der einzige Weg. Das gemeinsame Brückenbauen wollen wir alle nicht aufgeben.« Hızarcı schlägt Steinmeier am Ende vor, einen Marsch der Stille anzuregen. Der Bundespräsident überlegt kurz. »Kann man dieser Situation wortlos begegnen? Das einfachste Mittel ist nicht immer das überzeugendste«, meint er. Er habe am Abend vor dem runden Tisch noch nachgedacht, dass es mehr solcher Gespräche geben sollte – und möchte bald zur nächsten Runde einladen.