»Moses Mendelssohn war ein jüdischer Martin Luther«, erklärt Christoph Schulte und erntet bei den Teilnehmern des Studientages der Mendelssohn-Gesellschaft zum Thema »Moses Mendelssohn und die Erfindung der Orthodoxie« in der Mendelssohn-Remise für seinen Satz zunächst große Verwunderung.
Dabei beruft sich der Potsdamer Philosophieprofessor auf niemand Geringeren als Heinrich Heine, der 1834 geschrieben hatte: »Wie Luther das Papsttum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er die Tradition verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte und den wichtigsten Teil davon übersetzte.«
Nun ist der Dichter für seine Provokationen durchaus bekannt, und auch Moses Mendelssohn, Vordenker der Haskala, der jüdischen Aufklärung, war gewiss vieles, nur kein Reformator. »Schließlich sprach er sich entschieden gegen jede Veränderung der Halacha aus und forderte auch zu keinem Zeitpunkt die Aufgabe der Observanz.«
öffnung Sehr wohl aber machte sich Mendelssohn für eine gesellschaftliche Gleichstellung der Juden in Europa stark, was zugleich eine Öffnung gegenüber ihren nichtjüdischen Außenwelten bedeutete. Genau diesen Weg der Akkulturation jedoch wollten die Traditionalisten nicht mitgehen, Ablehnung und Dissens waren die Folge. Der Beginn der Haskala läutete zugleich die Geburtsstunde der Orthodoxie ein.
Denn die alten Autoritäten sollten nun für immer ihren Monopolanspruch verlieren. Wer sich Veränderungen widersetzte, galt fortan als orthodox. Dabei spiegelt gerade der »Wegbereiter der Pluralisierung des Judentums« eine innere Zerrissenheit wider: »Als weltoffener Bürger seines Staates ließ Mendelssohn Grenzen hinter sich – ohne aber dabei der Religion seiner Väter untreu zu werden«, betont Roland Tasch von der Universität Amsterdam.
koscher Er verdeutlicht diese Haltung mit einer Geschichte: »Wann immer Mendelssohn bei Christen eingeladen war, brachte er sich selbst ein hart gekochtes Ei mit, um nicht treife Speisen essen zu müssen.« Selbst bei seinem Freund Lessing schlug er den angebotenen Wein aus und bat stattdessen um ein Glas Wasser.« Laut Tasch zeugt diese Haltung »von der Liebe zur Vernunft und zu den Traditionen gleichermaßen«.
Welches Skandalpotenzial der Name Moses Mendelssohn für die Orthodoxie immer noch besitzt, erläuterte die Wiener Historikerin Martina Steer am Beispiel der heftigen Reaktionen von Charedim vor über 20 Jahren auf einen Artikel über den »Philosophen der Aufklärung« im Jewish Observer, dem Blatt von »Agudath Israel of America«.
Die Palette der Anschuldigungen reiche von der Behauptung, Mendelssohn hätte Schweinefleisch konsumiert und sei ein »kultureller Vollblutdeutscher«, bis hin zur Hetze gegen die Tora, erklärte Steer.
Der Orthodoxie gelte der Aufklärer als »Inkarnation des Schlechten überhaupt und verantwortlich für alle Degenerationserscheinungen im Judentum«, fasst Steer die Reaktionen zusammen und erklärt: »Der Aufbau Moses Mendelssohns zu einer derart negativ belasteten Symbolfigur setzt eine intensive Beschäftigung mit ihr voraus.« Zugleich verweise er auf einen wichtigen Sachverhalt: »Auch für die Orthodoxie ist Mendelssohn der Referenzort schlechthin, über den man sich selbst definiert.«