Porträt der Woche

Alternative Wege gehen

Oleg Lipski ist Pharmazeut und kam mit seiner Familie von Minsk nach Deutschland

von Urs Kind  24.01.2021 09:43 Uhr

»Wegen eines Tumors musste ich mit 14 eine Sportkarriere als Fechter aufgeben«: Oleg Lipskij (41) lebt in Berlin. Foto: Uwe Steinert

Oleg Lipski ist Pharmazeut und kam mit seiner Familie von Minsk nach Deutschland

von Urs Kind  24.01.2021 09:43 Uhr

Seit der Präsidentenwahl in Belarus Anfang August bin ich mit meinen Gedanken und Gefühlen ständig in der Heimat und leide mit den Menschen vor Ort. Es sind sehr schmerzliche Gedanken, die mich umtreiben und beschäftigen.

Wie kann es sein, dass dieser autoritäre Herrscher Lukaschenko immer noch an der Macht ist? Wie kann es sein, dass er mit immer größerer Brutalität gegen das eigene Volk vorgeht? Wird es jemals gelingen, ihn und sein Regime zu stürzen? Was braucht es dafür? Schaffen es die Menschen in Belarus von sich aus, oder braucht es mehr Unterstützung von außen?

Minsk Diese Gedanken drehen sich bei mir im Kreis und lassen mich nicht los, jedes Mal, wenn ich die Nachrichten einschalte oder wenn ich mit Freunden und Familie in Minsk Kontakt habe. Vor dieser unmenschlichen Herrschaft ist meine Familie mit mir 1997 aus Minsk nach Deutschland geflohen, nachdem Lukaschenko drei Jahre zuvor an die Macht gekommen war. Meinem Vater war sofort klar, dass wir nicht in diesem Land bleiben können, obwohl er sich stets als patriotisch gegenüber seinem Heimatland sah und auch heute noch sieht.

Meine Großmutter mütterlicherseits hatte seit Ende der 70er-Jahre gut vom Handel mit Waren auf Märkten und Basaren gelebt. Sie hatte eine Behinderung, und so war es ihr erlaubt, ein eigenes Geschäft zu betreiben, was sonst nicht möglich war in der Sowjetunion. Als diese privatwirtschaftlichen Märkte unter Lukaschenko verboten wurden, war meinen Eltern klar, dass es so nicht weitergehen konnte.

Nach Deutschland auszuwandern, war eine schwere Entscheidung.

Mein Vater hatte zwar eine gute Stellung an der Akademie in Minsk – er arbeitete dort als chemischer Analytiker –, aber sie sahen keine andere Möglichkeit, als ihr altes Leben aufzugeben und die Heimat schweren Herzens zu verlassen.

Für mich war das eine schwere Entscheidung. Ich hatte damals gerade angefangen, Pädagogik zu studieren, und vor mir lag ein ganz neues Leben. Kurz zuvor musste ich mich bereits einmal von meinen ursprünglichen Plänen abrupt verabschieden, als in meinem Knie ein Knochentumor diagnostiziert wurde und ich meine Laufbahn als Fechter beenden musste.

FECHTEN Seit meiner Kindheit hatte dieser Sport mein Leben geprägt. Meine Mutter sagte immer, dass ich als Kind einen riesigen Bewegungsdrang hatte, den ich im Fechten ausleben konnte. Ich war als Schüler in einem Sportinternat in Minsk und genoss dort ein privilegiertes Leben. Es gab eine außergewöhnliche Betreuung, gutes Essen, Sportschuhe aus dem Westen und so manch andere Vorteile. Das wusste ich sehr zu schätzen. Uns ging es gut, während viele andere Hunger leiden mussten oder keinen Strom hatten.

Ich war sehr erfolgreich und nahm an vielen, auch internationalen, Wettbewerben teil. Mein größter Erfolg war es, dass ich im Alter von 14 Jahren belarussischer Vizemeister wurde. Im Jahr 1996 sollte ich sogar an den Olympischen Spielen in Atlanta teilnehmen. Doch es kam alles ganz anders.

Nach Schmerzen im Knie wurde bei mir ein Knochentumor diagnostiziert, der zum Glück gut behandelt werden konnte, aber die sportliche Karriere war vorbei. Meine Eltern hatten Beziehungen, und so konnte ich eine gute Behandlung erhalten. Ich verbrachte viel Zeit im Krankenhaus und hatte viel Gelegenheit zum Lesen und Radiohören, insgesamt dauerte die Heilung fast drei Jahre.

INTEGRATION Die Krankheit hatte aber auch ihre guten Seiten: Nach der Genesung konnte ich wie ein normaler Junge mit den anderen meine Freizeit verbringen und war nicht mehr nur auf Sport fokussiert. Nachdem ich entschieden hatte, mit einem Studium zu beginnen und gerade das zweite Semester beendet hatte, beschloss die Familie, das Land zu verlassen. Das war nicht leicht für mich.

Wir entschieden uns, nach Deutschland zu gehen, obwohl andere Familienmitglieder vorher bereits in die USA oder nach Israel ausgewandert waren. Erste Station war ein Flüchtlingslager in Wismar. Von dort war es nicht einfach, in der deutschen Gesellschaft Fuß zu fassen, da dort viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion auf engstem Raum zusammenlebten.

Die Integration gelang mir dann deutlich besser, als ich in Greifswald das Abitur nachholte und in Wismar mit einer Ausbildung zum technisch-pharmazeutischen Assistenten begann. Das Interesse an diesem Beruf, an Chemie und Pharmazie, habe ich sicherlich auch von meinem Vater mitbekommen. Für mich ist es schon immer ein großer Wunsch gewesen, Menschen zu helfen und ihre Leiden lindern zu können.

Das Interesse an diesem Beruf, an Chemie und Pharmazie, habe ich sicherlich auch von meinem Vater mitbekommen.

Das Schicksal verschlug mich dann irgendwann nach Berlin, wo ich seitdem als Pharmazeut in Apotheken arbeite. Hier bringe ich meine Talente im Beraten und Verkaufen mit meinem Wunsch zu helfen in Einklang. Was Berlin auch mit mir gemacht hat, lässt sich leider nicht wieder reparieren. Vor einigen Jahren traf mich an einem Silvesterabend eine Rakete und explodierte vor meinem Gesicht. Dabei wurde mein rechtes Auge stark verletzt, sodass ich auf ihm fast nicht mehr sehen kann.

FAMILIE Das Schicksal spielt in meinem Leben immer wieder eine große Rolle. Interessanterweise haben die Inhaber der Apotheken, in denen ich arbeite, oder deren Kunden einen osteuropäisch-russischen, manchmal auch jüdischen Hintergrund. Zurzeit arbeite ich in einer Apotheke, die einem schwulen jüdischen Polen gehört.

Das macht Berlin für mich so einzigartig: In kaum einer anderen Stadt der Welt wäre eine solche Konstellation unserer beiden Biografien so selbstverständlich. Auf der anderen Seite beobachte ich bei mir, dass ich im Gespräch mit arabischstämmigen Menschen oft das Bedürfnis habe, meinen religiösen Hintergrund nicht zu thematisieren.

Mein Großvater väterlicherseits war Schuhmacher in Babrujsk, östlich von Minsk.

Auch wenn ich selbst kein praktizierender Jude bin und mich die Religion im Alltag wenig beschäftigt, hat mich meine jüdische Herkunft persönlich stark geprägt und beeinflusst. Mein Großvater väterlicherseits war Schuhmacher in Babrujsk, östlich von Minsk, und in seiner Familie hat die jüdische Religion eine sehr große Rolle gespielt. Ein schlimmerer Beruf als der des Schuhmachers war nicht denkbar, da er mangelnden Wohlstand signalisierte.

ELTERN Da mein Vater Kinderlähmung hatte, machte sich die ganze Familie große Sorgen, ob er eine anständige jüdische Frau finden würde. Als er dann eine wunderbare Frau, meine Mutter, kennenlernte, die allerdings aus einer polnisch-katholischen Familie stammte, war die Empörung zunächst groß. Das legte sich aber wieder, als sich herausstellte, dass meine Mutter aus einer wohlhabenden Familie stammt.

So kam es, dass ich als Kind in den Sommermonaten viel Zeit in Polen verbrachte und auch katholisch getauft worden bin. Bei meiner Geburt im Jahr 1979, kurz nach der Hochzeit meiner Eltern, gaben sie mir den Nachnamen Lip­skij statt des jüdischen Namens Lewin, den die Familie meines Vaters trägt. Meine Eltern wollten nicht, dass ich wegen meiner jüdischen Herkunft in der Sowjetunion leiden musste, wie es weit verbreitet war.

Für Juden war es nur durch persönliche Begabungen und Talente in bestimmten geachteten Bereichen möglich, sich einen angesehenen Status zu verdienen. Insofern unterstützten mich meine Eltern sehr bei meiner sportlichen Karriere, da hier der Erfolg Anerkennung versprach. Zum Glück für meinen Vater gab es auch für Invaliden eine staatliche Unterstützung, sodass er nicht zu sehr benachteiligt war.

Ich träume davon, eines Tages eine eigene Praxis zu eröffnen.

Als er später an der Akademie in Minsk arbeitete, wurde ihm schon sehr früh nach dem Unglück von Tschernobyl klar, was da genau vorgefallen war, da er Messdaten analysierte und erkannte, dass es sich um einen atomaren Störfall handeln musste. Es dauerte dann bekanntlich noch Wochen, bis diese Information öffentlich wurde. Meine Eltern verboten mir, in den Tagen nach der Katastrophe das Haus zu verlassen, ich verstand das als Kind natürlich nicht. Seitdem gab es immer einen Vorrat an Jod-Tabletten im Haus.

KONFLIKT Heute muss ich leider sagen, dass ich nie wieder nach Belarus zurückkehren möchte, um dort zu leben. Eine Tante und Cousinen leben in Minsk in täglicher Angst, das ist schwer für mich und für meine Eltern. Umso glücklicher kann ich mich schätzen, dass wir hier in Deutschland ein gutes Leben haben und nicht einer solchen Gefahr ausgesetzt sind.

Aktuell konzentriere ich mich neben der Arbeit in der Apotheke darauf, meine Ausbildung zum Heilpraktiker abzuschließen. Damit habe ich vor einigen Jahren angefangen, als mir klar wurde, dass ich mich zu häufig im Konflikt befand, einerseits den Kunden eine bestmögliche Beratung zu geben und andererseits pharmazeutische Produkte zu verkaufen – diese beiden Ziele lassen sich leider nicht immer zu meiner Zufriedenheit vereinbaren.

Ich träume davon, eines Tages eine eigene Praxis zu eröffnen und Menschen sowohl schulmedizinisch als auch als Heilpraktiker zu helfen. Bei dieser Entscheidung, alternative Wege für die Gesundheit zu suchen, hat mich meine Frau sehr unterstützt. Wir sind seit Kurzem verheiratet und freuen uns, hoffentlich bald eine »richtige« Familie zu sein.

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