Gemeinde und Gemeinschaft: Das englische Wort »community« meint beides. Nicht immer aber agiert die jüdische Gemeinschaft in den Gemeinden. Bundesweit haben sich unlängst etliche unabhängige Initiativen für junge Erwachsene etabliert.
»Das jüdische Leben in Deutschland ist sehr viel vielfältiger und bunter als vor fünf, sechs oder sieben Jahren«, bringt Sabine Reisin den Wandel auf den Punkt. Am vergangenen Freitag begrüßte sie 18 Teilnehmer zwischen 18 und 35 Jahren zum Online-Seminar »Jüdische Gemeinde und Gemeinschaft: Ein Zuhause für alle?!«
ZWST Das von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) ausgerichtete Format bemühte sich um eine Bestandsaufnahme und wollte eine Diskussionsplattform schaffen. Vertreter von jüdischen Gemeinden, ZWST und Initiativen wie »Moishe House« oder »Limmud« nahmen in Vorträgen, Panels und Gesprächen das aktuelle Verhältnis von Gemeinden und Gemeinschaft in den Blick.
Zum Auftakt präsentierte ZWST-Direktor Aron Schuster zwei mögliche Sichtweisen auf den Status quo. »Wir sind gehasst, überaltert und relativ arm«, lautete das Negativszenario. Als Beleg führte Schuster Daten zum ansteigenden Antisemitismus an. Er zeigte zudem Statistiken zur allmählich sinkenden Mitgliederzahl der jüdischen Gemeinden in Deutschland.
Auch habe Deutschland die in Westeuropa vergleichsweise ärmste jüdische Gemeinschaft. Schuster erklärte dies mit der schwierigen Arbeitsmarktintegration der ersten Einwanderergeneration aus der ehemaligen Sowjetunion Anfang der 90er-Jahre.
»Wir sind integriert, inklusiv und gut unterstützt«, überschrieb der ZWST-Direktor das positive Szenario. »Das sind heute Leistungsträger in der Mitte der Gesellschaft«, sagte er über die zweite Generation der Zuwanderer. Auch die Integration in die Gemeindelandschaft habe sehr gut funktioniert. »Die Diversität der jüdischen Gemeinschaft wird heute deutlich sichtbarer«, hob Schuster hervor. Er verwies zudem auf die bessere Dokumentation antisemitischer Vorfälle und die Bestellung von Antisemitismusbeauftragten. Auch das steigende Engagement ausländischer jüdischer Organisationen in Deutschland führte Schuster an.
Kernaufgaben Am Samstagabend – nach Schabbat – stand die Perspektive der Gemeinden im Fokus eines von Hannah Dannel, Kulturreferentin des Zentralrats der Juden, moderierten Panels. Kultus als Kernaufgabe der Gemeinde sei für viele junge Leute heute nicht mehr das Wichtigste, sagte Steven Guttmann. »Es geht um Gemeinschaft, Austausch, Netzwerke, sich zu Hause fühlen«, erläuterte der Geschäftsführer der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern.
»Ich glaube schon, dass es heute eine jüdische Gemeinschaft ohne jüdische Gemeinde gibt.«
Michael Rubinstein, Direktor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf
Michael Rubinstein, Gemeindedirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf und ZWST-Vorstandsmitglied, sagte: »Ich glaube schon, dass es heute eine jüdische Gemeinschaft ohne jüdische Gemeinde gibt.« Das sei Fluch und Segen zugleich. In kleineren Städten »ist jüdische Gemeinde jüdische Gemeinschaft«, merkte Alexander Sperling aus Dortmund an.
Die Synagoge sei dort weiterhin Zentrum des jüdischen Lebens. Der Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe betonte: »Wir haben eine sehr aktive, sehr gute Jugend.«
Imageproblem Sperling sagte aber auch: »Ich glaube, bei der Generation der jungen Erwachsenen haben wir ein Imageproblem.« Es sei unheimlich schwierig, junge Leute zu finden, die sich für die Gemeinden engagieren, bestätigte Guttmann.
Am Sonntag sprach Anastassia Pletoukhina, Leiterin der Bildungseinrichtung für junge jüdische Erwachsene im Alter zwischen 18 und 35 Jahren, »Nevatim« der Jewish Agency for Israel, über das zunehmende Engagement junger Erwachsener außerhalb der jüdischen Gemeinden.
Das Verständnis von Gemeinde und Gemeinschaft habe sich gewandelt, berichtete Pletoukhina. Für junge Juden sei es heute eine plurale und nicht immer unter einem Dach befindliche Community-Gemeinschaft. Die Gemeinden seien häufig sehr misstrauisch gegenüber jungen Erwachsenen, die sich engagieren möchten.
Gleichwohl konnte Pletoukhina im Zuge ihrer soziologischen Promotionsarbeit beobachten, dass die Gemeinden weiterhin einen besonderen Stellenwert in deren Lebensläufen einnehmen. »Wir befinden uns in einer sehr aktiven Zeit«, resümierte sie.
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