Es ist wie eine Heimkehr – nach 82 Jahren. Nichts hat die heute 96-jährige Charlotte Isler von dem vergessen, was damals geschah: als sie 14-jährig mit ihren Eltern Claire und Manfred Nussbaum und dem elfjährigen Bruder Ernst ihre Heimatstadt Stuttgart am 10. April 1939 für immer verlassen musste. Es war Rettung in letzter Minute, nachdem der Vater am Morgen nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 sofort verhaftet worden war und sie selbst ebenso prompt aus der Schule flog.
»Da wussten wir«, sagt sie heute, »dass die Emigration unausweichlich ist.« Amerika bot Zuflucht, hier lebt sie heute nahe New York. Und hätte sich nie vorstellen können, wie eng eines Tages wieder die Beziehungen zu ihrer Vaterstadt Stuttgart werden würden.
Geburtstagsgeschenk Zeugnisse dieser neuen Verbundenheit sind ein Brief von nicht zu unterschätzender Wirkung und ein besonderes Geschenk ihrer Stuttgarter Freunde zum 96. Geburtstag vor wenigen Tagen: die Veröffentlichung ihrer Gedichte in deutscher Sprache. An den Entstehungskosten beteiligte sich auch Stuttgarts grüner Noch-Oberbürgermeister Fritz Kuhn.
Charlotte Isler gehört nicht zu den glücklich Davongekommenen, die nach dem NS-Terror allem Deutschen, der Sprache und dem Land, abgeschworen haben. »Ich wollte die deutsche Sprache nie vergessen«, sagt sie. Konsequent habe sie deshalb, während sie gleichzeitig Englisch erlernen musste, die Muttersprache weiter geübt. »Und ich wollte auch Stuttgart nicht vergessen.« 1967 ist sie das erste Mal zurückgekommen, um ihrem Mann Werner Isler, einem gebürtigen Berliner, und ihren Söhnen Ronald und Donald ihre Heimatstadt und die Schauplätze einer »schönen und unbeschwerten Kindheit und Jugend« zu zeigen.
reisen Als die wenigen Bekannten aus der Kindheit und Jugend nicht mehr lebten, gab es für Charlotte Isler keinen Grund mehr für Reisen in ihre Heimatstadt. Bis eines Tages im Jahr 2008 ein überraschender Anruf aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt alles änderte und ein neues Stuttgart-Kapitel begann. Angerufen hatte Irma Glaub von der in Stuttgart sehr aktiven Initiative Stolpersteine. Über viele Umwege hatte sie Charlotte Isler als Enkelin von Siegmunde Friedmann ausfindig gemacht, die 1944 in Theresienstadt umgekommen war und für die vor dem Haus Hohenstaufenstraße 17 ein Stolperstein verlegt werden sollte.
Charlotte Isler ist die Enkelin von Siegmunde Friedmann, für die ein Stolperstein verlegt wurde.
»Meine Großmutter lebte mit uns in diesem Haus«, erklärt Charlotte Isler. »Sie ist in Stuttgart geblieben, weil sie uns nicht zur Last fallen wollte.« 1942 gehörte die 70-Jährige dann zu den mehr als 1000 Juden aus Stuttgart und Württemberg, die vom Stuttgarter Nordbahnhof aus deportiert wurden und nie mehr wiederkehrten.
Mit diesem Stolperstein, vor dem Charlotte Isler dann einige Monate später stand, erfüllte sich ihre Beziehung zu Stuttgart mit neuem Leben und vielen neuen Freunden. Und obendrein auch gleich mit einer Aufgabe: dem Kampf um das Hotel Silber, von dem ihr Harald Stingele, Vorsitzender der Initiative zum Erhalt und zur Einrichtung eines Lern- und Gedenkortes, berichtete. Denn die ehemalige Polizei- und Gestapo-Zentrale, Schauplatz von Terror und Mord, war damals vom Abriss und den Neubauplänen des Unternehmens Breuninger bedroht.
Appell Charlotte Isler zögerte nicht und schrieb einen Brief: »Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das Hotel Silber nicht zerstören«, appellierte sie an den Ministerpräsidenten, den Oberbürgermeister, den Gemeinderat und den Chef von Breuninger, abgedruckt und nachzulesen im Gedichtband. Zehn Jahre später, 2018, konnte sie 94-jährig auf Einladung der Stadt an der Einweihung dieses Lern- und Gedenkortes teilnehmen.
Eine Zeitzeugin, an die auch die Schüler ihrer alten Schule, des heutigen Königin-Charlotte-Gymnasiums, viele Fragen hatten. Ihre Biografie und Persönlichkeit sind dokumentiert in dem Filmprojekt von Harald Stingele Fragezeichen – Jugendliche im Gespräch mit Zeitzeug*innen.
Geschrieben hat Charlotte Isler immer schon. Nach Ausbildung und Praxis als Krankenschwester verfasste sie Artikel für eine medizinische Fachzeitschrift, Bücher über das Gesundheitswesen, ein Kinderbuch sowie ihre Autobiografie. Und nun, als sie nach einem häuslichen Unfall zum Nichtstun verdammt war, Gedichte und, in der schwäbischen Verkleinerungsform ganz bescheiden, »Gedichtle« – auf Deutsch. Gereimte Betrachtungen über die Welt, zu Mensch und Tier, zu Natur und Kultur, zum Leben an sich. Unter dem Titel Das Leben ist trotzdem schön.
Optimismus »Der Titel sagt alles«, schreibt die Autorin im Vorwort. »Trotz Flucht aus Deutschland, trotz den Mühen einer neuen Existenz in der Fremde und Problemen aller Art betrachte ich die Welt immer noch als schön und interessant.«
Nun würde sie viel dafür geben, wieder nach Stuttgart reisen zu können. Zur Präsentation ihres Gedichtbandes, den der Freundeskreis – angeregt durch Harald Stingele – ermöglicht hat. Keine Chance in der Corona-Zeit, wozu sie selbst aktuell gereimt hat: »Ein Virus hat sich eingeschlichen / Wir sind nicht zeitig ausgewichen …« Charlotte Isler war dennoch dabei: per »Zoom« zugeschaltet. Höchst lebendig und sehr eindrucksvoll mit ihren 96 Jahren.
Charlotte Nussbaum Isler: »Das Leben ist trotzdem schön. Gedichte und Gedichtle«. Mit Zeichnungen von Alina Lingel. Peter-Grohmann-Verlag der Anstifter, Stuttgart 2020. 104 S., 10 €