Ein kleines Mädchen hält einen gepunkteten Ball in der Hand. Dasselbe Mädchen, einige Jahre später, mit ernster Miene vor einem aufgeschlagenen Heft und schließlich an der Reling eines Schiffes stehend. Schwarz-weiße, braun-vergilbte Bilder huschen über die Wand eines Klassenraums der Berliner Joan-Miró-Grundschule in Charlottenburg. Rund 20 Schülerinnen und Schüler blicken konzentriert auf die Aufnahmen, von denen viele nicht weit entfernt von der Schule in der Bleibtreustraße in den 20er- und 30er-Jahren entstanden sind.
Die Bilder entstammen dem Familienalbum der Berliner Jüdin Inge Gatto. Bis 1938 lebte sie mit ihren Eltern und Großeltern in der Knesebeckstraße und ging auf die Private Volksschule der Jüdischen Gemeinde in der Fasanenstraße. Die Berliner Stolperstein-Initiative hat dafür gesorgt, dass die heute in Miami lebende Emigrantin für ein paar Tage die alte Heimatstadt besuchen kann.
Nun sitzt die zierliche, agile Dame hinter einem Lehrerpult und gibt eine besondere Geschichtsstunde. Die Schüler sind so alt wie Gatto selbst, als sie mit ihren Eltern Berlin verließ und in Hamburg ein Schiff Richtung Argentinien betrat. Damals, im August 1938, war Inge elf Jahre alt. Drei Monate später begann mit der Pogromnacht die systematische Ausgrenzung und Verfolgung von Juden, Möglichkeiten einer Ausreise schwanden durch neue Gesetze immer mehr.
Hausrat »Wie fühlte es sich an, als junges Mädchen zu fliehen?«, möchten die Kinder von ihrem Gast wissen. »Ich habe es damals nicht als Flucht empfunden, meine Eltern haben mich bei der Hand genommen, und dann sind wir auf das Schiff gegangen«. Sie erinnere sich jedoch, dass ihre Mutter nicht aus Berlin weggewollt habe, als der Vater, Willi Kronthal, ein Vertreter für Glas- und Porzellanwaren, zur Emigration drängte. Es reichte schließlich für die dritte Klasse auf dem Schiff. »Was haben sie alles nach Argentinien mitgenommen?«, fragt ein Schüler.
Ihre Mutter habe viel eingepackt, aber fast alles von dem mitgebrachten Hausrat war kaputtgegangen, als ihre Eltern die Kisten endlich Monate später aus einem Depot in Buenos Aires abholen konnten. Aber ist ihr der Abschied wirklich nicht schwergefallen und hat sie nichts vermisst? »Es ist leichter, sich in neuen Kulturen zurechtzufinden, wenn man jung ist«, antwortet Gatto.
In Argentinien lernte sie schnell Spanisch und fand neue Freunde. Aber einfach sei der Neubeginn in der Fremde nicht gewesen: Der Vater fand nicht gleich eine Arbeit, und lange wohnte sie zusammen mit ihren Eltern in einem einzigen Zimmer. Damals ahnte die Familie noch nicht, dass sie die meisten Verwandten in Deutschland nicht mehr wiedersehen würde. Es blieben nur einige Bilder. Eines zeigt ihren Großvater Georg Kronthal in schwarzem Anzug mit weißem Einstecktuch bei der Lektüre des Jüdischen Nachrichtenblattes.
Die Kinder erkennen das Foto wieder. Sie haben es am Vorabend bei der Verlegung eines Stolpersteins zur Erinnerung an Georg Kronthal in der Knesebeckstraße gesehen. Im Haus mit der Nummer 18/19, Gartenhaus, zweite Etage, hat er bis 1938 zusammen mit seiner Frau und der Familie seines Sohnes gewohnt. »Mein Großvater hat mich immer Pupperle genannt«, erzählt Inge Gatto den Schülerinnen und Schülern, die sich im Rahmen einer Projekt-AG auf historische Spurensuche in ihrer Nachbarschaft begeben und sich dabei auch mit der Stolperstein-Initiative beschäftigt haben.
Recherche Anders als sein Sohn, dessen Frau und seine Enkeltochter Inge blieb Georg Kronthal in Berlin. 1942 wurde er aus dem Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger Straße nach Theresienstadt deportiert. Ohne die Recherchen der Stolperstein-Initiative hätte Inge Gatto nie ihre ganze Familiengeschichte erfahren: dass ihr Großvater schließlich im Vernichtungslager Treblinka umkam, dass ihre Großmutter noch in Berlin gestorben war und auf dem Friedhof Weißensee begraben liegt und dass auch ihr Onkel, dessen Frau und Tochter in Auschwitz ermordet wurden. Was erkenne sie heute in Berlin wieder, fragt ein Junge.
Kaum etwas seit ihren letzten beiden Besuchen 1978 und kurz nach der Wende. »Es hat sich viel verändert«, sagt sie. Nur eines ist leicht wiederzuerkennen: das KaDeWe. Ein besonderer Ort für Inge Gatto, arbeitete doch ihr Großvater hier bis zum Jahr 1933 als leitender Angestellter in der Abteilung »Moderne Möbel«. Ganz oben auf dem Programm dieser Berlin-Reise stand für Gatto, die in ihrer Heimatstadt Miami ehrenamtlich im Jewish Museum of Florida arbeitet, der Besuch des Jüdischen Museums. »Fantástico! Einfach unglaublich!«, lässt sie ihrer Begeisterung über die Architektur des Libeskind-Baus und das moderne Ausstellungskonzept freien Lauf. »Und viel mehr Betrieb als bei uns«, fügt sie lachend hinzu.
Klima In die USA wanderte die gelernte Krankenschwester in den 60er-Jahren aus. Die Wirtschaft Argentiniens war instabil und bot wenig Perspektiven. Erst geht Inge Gatto nach New York, 1970 findet die spätere Bankangestellte in Miami eine neue Heimat und lernt ihren Mann kennen.
Europa Florida entwickelte sich nicht zuletzt wegen seines angenehmen Klimas nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem beliebten Ziel für jüdische Einwanderer aus anderen US-Bundesstaaten und aus lateinamerikanischen Ländern. Zuvor waren aus Europa bereits einige Tausend Juden auf der Flucht vor der Schoa und später jüdische Überlebende in die Region gekommen. Heute zählt Südflorida neben New York und Südkalifornien zu den Gebieten mit der höchsten Dichte an jüdischen Einwohnern in den USA.
Mit Berlin verbindet Gatto weiter ein Heimatgefühl. Auch, wenn sie bei diesem Besuch häufig daran denken muss, wie richtig ihre Eltern handelten, als sie seinerzeit Deutschland verließen. »Sonst würde ich nicht vor euch sitzen«, sagt sie den Schülern.