Porträt der Woche

»Als Kind war ich Adventist«

»Essen ist etwas Großartiges«: der Frankfurter Victor Sanovec in seiner offenen Küche Foto: Judith König

Ich habe zwei Heimaten: die eine ist die Kunst, die andere das Judentum. Aber das war nicht immer so. Ich wurde 1943 im tschechischen Olmütz in eine Familie von Adventisten geboren. Dadurch kannte ich schon den Schabbat und die Bibel – aber die Religion war eine freudlose Angelegenheit.

Dass in unserer Familie irgendetwas anders war, hatte ich schon als kleiner Junge bemerkt. Eines Tages spielte ich im Schlafzimmer meiner Eltern und fand dort ein Buch mit vielen Fotografien, Schriftzeichen und einem Säckchen Erde. Mein Großvater hatte sie für meine Mutter aus dem Heiligen Land mitgebracht, damit man sie ihr auf die Augen legt, wenn sie eines Tages stirbt, erklärte meine Mutter. Das war für mich als Kind erst einmal ein schrecklicher Gedanke. Erst viel später erfuhr ich, dass meine Mutter Jüdin war und sich erst kurz vor der Heirat hatte taufen lassen. Die Heirat hat sie letztlich vor der Ermordung durch die Nazis bewahrt. Darüber sprach meine Mutter aber erst, als ich schon in Deutschland war.

Lager Der größte Einschnitt kam für mich mit 19 Jahren. Ich verweigerte den Militärdienst in der tschechoslowakischen Armee und wurde dafür zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt – eine Erfahrung, die ich niemandem wünsche. In dieser Zeit lernte ich die Freiheit als das höchste Gut schätzen. Nach meiner Entlassung wurden mir alle Bürgerrechte entzogen, und ich durfte nicht studieren. Ich begann damals mit dem Zeichnen. Es war eine Art Selbsttherapie, um mit meinen Erlebnissen umzugehen. Ich wollte auch Kunst studieren, aber es war mir wegen meiner Haft verboten. So schlug ich mich als Tagelöhner durch und beschloss 1968, die Tschechoslowakei zu verlassen. Der erste Fluchtversuch misslang, aber es gab für mich kein Halten mehr. Beim zweiten Mal klappte es, und so kam ich schließlich ins hessische Hanau.

Erst nachdem ich das Land meiner Geburt verlassen hatte, fand ich meine neuen Heimaten. Meine Flucht hatte auch damit zu tun, dass ich mich endlich vollständig der Kunst widmen wollte. Mein Interesse an der Kunst hatte mit einem Schulausflug in ein Museum in Olmütz begonnen. Dort sah ich das Bild einer halb bekleideten Frauengestalt, ihre Haut schimmerte, umgeben von Dunkelheit – dieses Geheimnisvolle faszinierte mich und ließ mich nicht mehr los.

Kunsthochschule In Deutschland angekommen, bekam ich schnell einen Job bei einem Steinmetz. Dort lernte ich das Handwerk. Ich bewarb mich an der Frankfurter Städelschule für ein Kunststudium – und wurde angenommen. Fünf Jahre studierte ich dort, zunächst monumentale Malerei, dann wechselte ich in die Bereiche Grafik und Plastik. Die Professoren sahen diese Wechsel nicht gern. Aber bis heute bin ich neugierig und möchte mich nicht festlegen. Das Studium war toll, weil ich endlich tun konnte, was mich interessierte.

Ich reiste als Staatenloser und besuchte Museen in England und Österreich. Man kann sich heute nicht mehr vorstellen, was das bedeutete: An den Grenzen musste ich alles vorweisen und wurde besonders streng kontrolliert.

Natürlich war es auch eine entbehrungsreiche Zeit. Nach meinem Abschluss arbeitete ich eine Zeit lang als Assistent an der Städelschule und später als Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach. Allerdings merkte ich schnell, dass ich kein Lehrer bin.

unwissen
Doch bis heute ist es mir wichtig, Menschen zu begeistern und Unwissen zu beseitigen. Als meine Frau und ich in Oberwesel wohnten, haben wir die alte Synagoge gemietet und zahlreiche kleine Veranstaltungen zum Thema Judentum organisiert, Ausstellungen, Lesungen und kleine Gottesdienste zu Chanukka. Auch mein Buch Jüdische Kochschule habe ich aus diesem Grund geschrieben: Ich möchte die Menschen für die jüdische Küche interessieren. Bei meinen Vorträgen zu diesem Thema merke ich, dass es ein großes Bedürfnis nach Aufklärung gibt. Außerdem zeigt sich gerade beim jüdischen Essen die großartige Vielfalt des Judentums: Vom eher fettigen Essen im europäischen Judentum bis zu den scharfen Speisen der jemenitischen Juden gibt es einfach alles. Außerdem koche ich für mein Leben gern. Essen ist etwas Großartiges – und so wichtig wie Sex.

Wenn wir am Schabbat Freunde und Bekannte einladen und sie mein Essen genießen, dann ist das ein einzigartiges Gefühl für mich. Außerdem empfinde ich es als eine große Friedensarbeit, unterschiedliche Menschen an einen Tisch zu bringen und miteinander zu essen. Hierbei ist mir aufgefallen, dass es mit meinen Kollegen aus dem Schützenverein des TuS Makkabi Frankfurt viel friedlicher und harmonischer zugeht als mit manchen anderen Freunden. Es ist so, als würde der Schießsport die Menschen freundlicher machen.

Mittlerweile ist das Judentum zu einem sehr wichtigen Teil meines Lebens geworden. Nachdem ich in Deutschland angekommen war, fühlte ich mich immer stärker dazu hingezogen. Ich besuchte Synagogen und fuhr Mitte der 70er-Jahre nach Israel. Es war ein unterschwelliges Gefühl der Zugehörigkeit. Aber es dauerte trotzdem noch einige Jahre, bis ich vollständig zum Judentum zurückkehrte.

Familiendokumente Als mich der Rabbiner in Frankfurt nach meinen Papieren fragte, konnte ich natürlich keine vorweisen. So fuhr ich nach dem Fall der Mauer in meinen tschechischen Geburtsort und fand mit Unterstützung der dortigen Gemeinde Familiendokumente. Auf das, was ich dort las, war ich allerdings nicht vorbereitet: Die Eltern meiner Mutter wurden am 6. September 1943 mit einem Zug von Theresienstadt nach Auschwitz deportiert. Die Fahrt dorthin dauerte drei Tage. Und ich bin am 9. September 1943 geboren. Niemand kann sich vorstellen, wie mich das erschüttert hat.

Ein weiteres Schlüsselereignis für mich und meine Frau war der Tod unserer kleinen Tochter. Er warf existenzielle Fragen auf: Wer sind wir, und wo gehören wir hin? So begaben wir uns auf die Suche und fanden schließlich zur Gemeinde in Hannover. Der nächste Schritt führte uns nach London zur liberalen Gemeinde der Westminster-Synagoge, wo der dortige Rabbiner Thomas Salamon über zwei Jahre den Übertritt meiner Frau begleitete und ich ebenfalls die Grundlagen des Judentums lernte. Heute ist das Judentum, wie gesagt, zu meiner zweiten Heimat neben der Kunst geworden. Ich trage zwar tagsüber keine Kippa, aber ich beginne jeden Tag mit dem Gebet »Du hast mir die Seele gegeben, du wirst sie mir auch wieder nehmen«.

Die Suche nach einer passenden Gemeinde war nicht einfach. Wir waren zwar Mitglieder in Hannover, haben aber auch andere Gemeinden besucht: in Mainz, Koblenz, Bamberg. Und oft waren wir in der liberalen Gemeinde in Köln. Wenn ich heute eine neue Stadt besuche, dann halte ich immer nach zwei Dingen Ausschau: Wo gibt es ein paar Juden, und wo ist das nächste Museum? So muss ich nie auf meine zwei Heimaten verzichten und kann mich überall zu Hause fühlen.

Aufgezeichnet von Kevin Zdiara

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