Etwa 193.000 Schoa-Überlebende leben noch in Israel, Tausende in Deutschland – Menschen, die nicht selten bis heute an Traumata leiden. Schwere Depressionen, Angstzustände und Verzweiflung sind psychische Probleme, die oft erst im Alter auftreten. Um die Organisation in Israel zu unterstützen und sich um Überlebende in Deutschland zu kümmern, wurde 1990 in Berlin der Verein »Amcha Deutschland« ins Leben gerufen. Den 25. Jahrestag seiner Gründung beging Amcha mit einer Podiumsdiskussion im Jüdischen Museum Berlin.
»Direkt nach der Befreiung ging es für viele um das Überleben nach dem Überleben: darum, einen sicheren Lebensort zu finden, eine Familie zu gründen, Bildung nachzuholen«, referiert der Psychiater und Psychotherapeut Martin Auerbach. Erst danach hätten sie die Kraft gefunden, sich mit ihrer Biografie auseinanderzusetzen. »Bei vielen kommen die Erinnerungen noch später hoch – nach der Pensionierung, wenn die Kinder aus dem Haus sind oder der Partner gestorben ist.« Der Mediziner ist klinischer Direktor bei Amcha, einer Hilfsorganisation von Überlebenden für Überlebende und deren Nachkommen.
sozialklubs 1987 wurde Amcha gegründet, um eine große Lücke zu schließen: Bis dahin gab es kaum psychotherapeutische Angebote in Israel. Mittlerweile betreibt Amcha (»Dein Volk«) 14 psychotherapeutische Zentren im Land, bietet Sozialklubs für ältere Menschen an oder besucht sie zu Hause, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, in die Treffpunkte zu kommen. Allein im vergangenen Jahr wurden so 17.812 Menschen betreut, ihr Durchschnittsalter liegt bei 84 Jahren.
»Als wir mit Amcha anfingen, wussten wir nichts über die Behandlung von alten Menschen«, erzählt die Psychotherapeutin Giselle Cycowicz, die selbst die Schoa überlebte. »Wir haben uns auf unser Herz verlassen und von den älteren Menschen gelernt.« Sie berichtet von der Zeit nach Auschwitz. »Nach der Befreiung fielen viele von uns über Jahre in eine Depression: Wir hatten keine Träume.« Erst ihr Studium der Psychologie habe das Trauma verdrängt. »Das Lernen hat mir so viel Leben gegeben«, erinnert sich die 88-Jährige.
Trauma-Experten Für den Psychologen und Trauma-Experten David Becker sind Cycowiczs Erzählungen exemplarisch: »Ein zentraler Punkt für die Arbeit mit Überlebenden ist, dass diese von der Passivität in die Aktivität kommen müssen. Jedes Stück mehr Selbstkontrolle ist ein Stück weniger psychische Belastung.« Das Trauma ende nicht, wenn die unmittelbare Gewalt vorbei sei. Vielmehr wirkten die Traumata bis heute – entsprechend sei ihre Aufarbeitung eine Gegenwartsfrage.
Dabei geht es nicht nur um die Überlebenden selbst, sondern auch um ihre Nachkommen – ein Grund dafür, dass sich der Grünen-Bundestagsabgeordnete Volker Beck dafür einsetzt, ihnen psychosoziale Betreuung zur Verfügung zu stellen. Bislang bezahlt die Bundesregierung diese nur für Überlebende der Schoa selbst. »Für mich gehört es aber zur Verantwortung der Geschichte, sich auch um die Nachkommen zu kümmern«, sagt Beck. Oft genug leiden diese unter dem weitergegebenen Trauma der Eltern und Großeltern – ein weiterer Arbeitsschwerpunkt von Amcha.
Für die Organisation sei nicht nur die Behandlung von Symptomen wichtig, sondern auch die Würde der Patienten, betont Martin Auerbach. Er habe gelernt, dass es nicht darum gehe, das Gleiche erlebt zu haben, sondern um die Bereitschaft, Zeuge zu werden. »Solange es Menschen gibt, die jemanden brauchen, der aktiv zuhört, so lange ist Amcha nötig«, sagt Auerbach.
Kinder Inessa Lukach ist Leiterin des Treffpunkts Amcha in Dresden. Sie hat die Lebenserinnerungen der betagten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Dresden als Texte und Videos dokumentiert. 196 Holocaust-Überlebende sind Mitglieder der Gemeinde, fast alle stammen aus der ehemaligen Sowjetunion.
Jeder neue Bericht lässt Lukach schaudern. Es sind erschütternde Geschichten über verfolgte, verlassene, vertriebene und versteckte Kinder. Doch für Lukach hat die Biografiearbeit eine besondere Bedeutung: »Wir geben den Familien ihre Geschichten zurück«, erklärt die 67-Jährige. Viele Überlebende der Schoa sind heute über 80 Jahre alt. Die Dokumentation ihrer Erinnerungen dulde keinen Aufschub.
Das Interesse der Jungen an ihren Überlebensgeschichten sei groß, meinen die Betroffenen. Hin und wieder berichten sie auch vor Schulklassen von ihren Erlebnissen. Klaudia Ginzburgs Erinnerungen schrieb ihr Enkel Simon auf. Er habe alte Familienfotos gesehen und Fragen gestellt, erzählt die 75 Jahre alte Köchin der Jüdischen Gemeinde. Klaudia Ginzburg wurde als Zweijährige zusammen mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern im Ghetto von Mogilev-Podolskij (Ukraine) eingesperrt. Später kam die Familie ins Konzentrationslager Petschora. Dem Lager konnte sie entkommen, weil Freunde sie freikauften.
ZUfall Dass sie heute ihre Geschichten erzählen können, verdanken die Überlebenden manchmal hilfsbereiten und mutigen Menschen oder dem Zufall. Wie zum Beispiel Heinz-Joachim Aris, 1934 in Dresden geboren und heute Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden. Am 16. Februar 1945 sollte er nach Theresienstadt deportiert werden. Doch dazu kam es durch die Bombardierung Dresdens am 13. Februar nicht mehr.
Die medizinische und psychosoziale Betreuung ist ein Schwerpunkt der Arbeit im Dresdner Treffpunkt Amcha. Zehn Mitarbeiter kümmern sich um die alten Leute. Die finanziellen Mittel stellen die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die Claims Conference und die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft (EVZ) zur Verfügung.
Die meisten alten Leute brauchen Hilfe im Alltag. Allein in den ersten acht Monaten dieses Jahres machten die Mitarbeiterinnen von Amcha mehr als 1100 Haus- und über 600 Krankenhausbesuche. Häufig begleiten sie Senioren zum Arzt und zu den Ämtern. Sie erstellen Listen von russischsprachigen Medizinern und Pflegediensten, übersetzen Krankheitsbilder und Diagnosen. Vor allem aber führen sie einen ständigen Kampf gegen Isolation und Vereinsamung, denn die meisten Senioren sind alleinstehend und sprechen kaum Deutsch. Selbst wer die Sprache einmal beherrschte, hat sie im hohen Alter vergessen.
höhepunkt »Für sie ist es der Höhepunkt der Woche, wenn jemand von uns vorbeikommt und mit ihnen spazieren geht oder ihnen vorliest«, berichtet Amcha-Mitarbeiterin Nina Tabere. Außerdem kümmert sich das Team auch um die Angehörigen der Holocaust-Überlebenden. »Manche haben kranke Ehepartner oder Kinder. Die kann man doch nicht allein lassen«, meint Lukach.
Einmal im Monat findet in der Jüdischen Gemeinde ein Treffen mit kleinem Unterhaltungsprogramm oder Experten-Vorträgen zum Beispiel zu Themen der Gesundheitsvorsorge statt. »Ohne diese Treffen würden die meisten von uns nur zu Hause hocken«, weiß Roman Fedotov (79), der die Veranstaltungen regelmäßig besucht. Kontakte zu Deutschen und Nichtjuden haben die betagten Gemeindemitglieder kaum. Das liegt nicht nur an den Verständigungsschwierigkeiten. Den meisten fehlt schlicht das Geld, um am sozialen und kulturellen Leben außerhalb der Jüdischen Gemeinde teilzunehmen. »Schon die Zuzahlung zu ihren Medikamenten ist für viele ein Problem«, erzählt Inessa Lukach.
Freizeitgestaltung Also springt Amcha auch bei der Freizeitgestaltung in die Bresche. Ob Dampferfahrt, Musical oder Besuch bei der jüdischen Gemeinde im tschechischen Teplice: Wer will und kann, ist für einen kleinen Unkostenbeitrag dabei. Das lassen sich die wenigsten entgehen, auch wenn jede Unternehmung für die alten und oft kranken Menschen ein Kraftakt ist. Die Höhepunkte des Jahres sind für viele aber die Geburtstagsfeiern, die Amcha zweimal im Jahr organisiert. Dann werden Kinder- und Jugendbilder aus den 30er- und 40er-Jahren gezeigt, und bei Kuchen und Musik feiern die Überlebenden, dass sie noch da sind.
Inessa Lukach hat sich vorgenommen, künftig den Schwerpunkt noch mehr auf leichte Unterhaltung zu legen. Zwar will Amcha auch künftig der Befreiung von Auschwitz und der Opfer von Babij Jar gedenken. Doch Lukach hat festgestellt, dass Gedenktage oder Filme aus der alten
Heimat, die Synagogen mit Hakenkreuzschmierereien zeigen, die alten Leute mehr und mehr belasten. »Es nimmt die Leute zu sehr mit«, findet Inessa Lukach.
Andererseits sind diese Filme für die alten Menschen die einzige Erinnerungsmöglichkeit, reisen wäre für sie zu beschwerlich und gefährlich. Der bewaffnete Konflikt zwischen Russland und der Ukraine macht es auch schwieriger, an Informationen aus den Familienarchiven heranzukommen. Das ärgert Inessa Lukach, weil viele Juden aus dem Gebiet der ehemaligen UdSSR heute noch nach Verwandten suchen, die sie in den Wirren des Krieges aus den Augen verloren haben.
Suchdienst Als Fan der russischen TV-Suchsendung Warte auf mich konnte Lukach schon Erfolge verbuchen. So brachte sie Henry Halperin mit seiner in Deutschland lebenden Nichte zusammen. Halperin wurde in Dresden geboren, 1937 nahmen ihn seine Eltern mit nach Moskau. In der Sowjetunion wurden seine Eltern als angebliche Spione hingerichtet.
Henry war allein auf sich gestellt und als Deutscher und Jude Anfeindungen ausgesetzt. Er änderte seinen Namen und schwieg 60 Jahre lang über sein Schicksal. Erst seine Töchter brachten den Fall ins russische Fernsehen. Inessa Lukach sah die Sendung, suchte im Archiv der Dresdner Gemeinde und fand dort Angaben über die Familie Halperin. In Berlin machte sie Henrys Nichte Jeannette Drews ausfindig. 2011 trafen sich Onkel und Nichte in Dresden. Erst kürzlich kam Albina Lev aus Dresden dank ihres Aufrufs in der russischen Fernsehshow auf die Spur ihrer in die USA ausgewanderten Familienmitglieder. Lukachs Augen blitzen: »Ich hoffe, dass wir auch in diesem Fall bald eine Geschichte zu erzählen haben, die gut ausgegangen ist.«