Leipzig gefällt mir sehr gut, hier fühle ich mich richtig wohl. Als wir nach Deutschland kamen, landeten wir zunächst in einem Aufnahmeheim in Merane. Mein Bruder ist dann nach Karlsruhe gegangen, mich aber hat es nach Leipzig verschlagen. Meine Eltern wohnen gleich um die Ecke. Das ist praktisch, so kann ich ihnen schnell mal meine kleine Tochter bringen, wenn ich etwas unternehmen will. Gerade hat mein drittes Semester begonnen. Ich studiere Frühpädagogik und Leitungsmanagement. Das hört sich vielleicht etwas hölzern an, ist es aber nicht. Im Gegenteil. Mein Studium macht mir großen Spaß, weil ich es wunderbar verbinden kann mit der Arbeit, die ich im Ariowitsch-Haus mit den Kindern mache.
Meine Stelle dort wird derzeit noch vom Jugendamt gefördert. Seitdem wir das Begegnungszentrum vor zwei Jahren gegründet haben, konnten wir schon jede Menge an Projekten auf die Beine stellen. Ich kümmere mich vor allem um die Öffentlichkeitsarbeit. All die Veranstaltungen müssen ja irgendwie organisiert werden. Wir gestalten das Programm, überlegen uns Themen, schauen, wen man ansprechen könnte. Auch das Verwaltungstechnische gehört zu meinem Job, Abrechnungen zum Beispiel.
Büro Von Monat zu Monat kann die Arbeit aber ganz verschieden sein, je nachdem, was so anfällt. Wenn nicht gerade feste Termine anliegen oder eine Besprechung angesetzt ist, plane ich meinen nächsten Tag selbst. Ich bin hier von Montag bis Donnerstag im Büro. Am Freitag und Samstag studiere ich. Denn ich kann das Studium nur berufsbegleitend machen. Das ist eine ziemlich volle Woche.
Meist laufen hier mehrere Dinge parallel. Ich betreue die Projekte, die an Kinder und Jugendliche gerichtet sind. Von klein bis groß, wir haben da Fünfjährige und 15-Jährige, das ist eine recht weite Spanne. Meistens läuft ein Projekt über ein Jahr. Zurzeit bereiten wir eine Passage aus Anatevka vor. Die Kinder haben wir in verschiedene Gruppen aufgeteilt. Es gibt eine Gesangs-, eine Tanz- und eine Theatergruppe. Am Ende werden sie zusammengebracht und das Stück gemeinsam aufgeführt. Jeder soll etwas finden, womit er dabei sein kann. Es geht nicht darum, dass die Kinder zeigen, wie toll sie irgendetwas auswendig gelernt haben, sondern um ihre Spontaneität. Sie sollen mit Begeisterung dabei sein und am Ende das, was sie das ganze Jahr über gelernt haben, stolz aufführen.
Die meisten Kinder sind allerdings gar nicht jüdisch. Viele sind von der Lessing-Schule, die ist hier in der Nähe im Waldstraßenviertel. Einmal die Woche kommen die Drittklässler zum Tanzunterricht, den eine Pädagogin macht. Wir sind viel in Kontakt mit den Schulen. Manchmal staune ich, wie gut das schon geht, obwohl wir mit unserem Begegnungszentrum noch gar nicht so lange präsent sind. Wir schlagen der Direktion etwas vor, und wenn man dort zustimmt, dann können die Schüler das in der Hort-Zeit machen. Sie werden dann von der Erzieherin gebracht und nach einer Stunde wieder abgeholt.
Unser Ariowitsch-Haus fungiert als Ort der Begegnung mit den verschiedensten Angeboten, aber auch als Zentrum jüdischer Kultur. Irgendwie ist das Jüdische zwar immer präsent, aber eher indirekt. Es geht auch mal um jüdische Küche oder Feiertage, aber thematisch sind wir sehr offen.
Ausserirdische Ich selbst wurde nicht religiös erzogen, das spielte bei uns zu Hause in Kirowograd keine große Rolle. Dass ich jüdisch bin, habe ich erst mit der Zeit erfahren, aber einen religiösen Bezug hatte das für mich kaum. Ich finde es sehr wichtig, dass wir nicht als Außerirdische betrachtet werden, sondern als ganz normale Mitbürger. Dass wir ein offenes Haus sind, die Leute einfach kommen können und nicht schon durch Polizei vor der Tür abgeschreckt werden. Angst habe ich nicht. Aber als am Tag vor der Eröffnung unseres Hauses gegenüber zwei NPD-Wahlplakate hingen, war ich schon schockiert.
Für unsere Gemeindemitglieder ist das Ariowitsch-Haus natürlich auch eine gute Möglichkeit, Kontakt untereinander zu halten. Bei den Konzerten und Veranstaltungen können sie sich gegenseitig kennenlernen. Die meisten sind Zuwanderer wie ich, und so landen Anrufe oft bei mir, da meine Kollegin kein Russisch kann. Oft kommen die Gemeindemitglieder mit ihren Sorgen und Nöten: »Marina, weißt du, bitte, kannst du mir helfen.« Ja, wie sie halt so sind.
Dolmetschen Früher wollte ich gern Anwältin werden. Ich habe sogar drei Jahre Jura studiert. Doch dann kam meine Tochter, und so blieb ich erst einmal zu Hause. In dieser Zeit habe ich mit meinem Ex-Freund zusammen ein kleines Dolmetscherbüro betrieben. Und weil mir das so gefiel, beschloss ich, die Studienrichtung zu wechseln und sattelte um auf Spanisch und Russisch. Erst ging ich für ein Auslandssemester nach Spanien, später noch einmal ein ganzes Jahr lang und arbeitete dort in einem Reise- und Immobilienbüro. Das war eine sehr schöne Zeit. Nach meiner Rückkehr habe ich mich dann immer mehr in der Gemeinde engagiert und bin schließlich hier im Ariowitsch-Haus gelandet.
Es ist manchmal gar nicht so leicht, alles unter einen Hut zu bekommen. Meine Tochter ist jetzt neun Jahre alt. Ich hole sie von der Schule ab, bringe sie zum Tanzunterricht und auch regelmäßig hierher in den Russischunterricht. Natürlich spricht sie die Sprache perfekt, wir haben sie ja schließlich bilingual erzogen. Aber ich möchte, dass sie auch Russisch schreiben kann.
Salsa-Tanzen Die Wochenenden verbringt meine Tochter meist bei ihrem Vater. Das ist 100 Kilometer von Leipzig weg und für sie jedes Mal wie ein kleiner Urlaub. Die beiden verstehen sich gut. Und für mich passt das auch ganz gut, denn so kann ich mich die zwei Tage voll aufs Studium konzentrieren. Leicht ist es nicht, aber es lässt sich machen. Meine Eltern sind ja auch hier, und sollte ich mal einen langen Termin haben, holt meine Mutter die Kleine ab, wir wohnen nur fünf Minuten voneinander entfernt. Oft bin ich am Ende des Tages ziemlich müde. Aber am Wochenende versuche ich, rauszukommen. Ich gehe gern Salsa-Tanzen mit Freunden, von denen viele aus Spanien kommen. Natürlich habe ich auch viele russische Freunde.
Anfangs bin ich noch öfter mal in die Ukraine gefahren. Aber jetzt war ich in zehn Jahren vielleicht einmal dort. Irgendwie komme ich gar nicht dazu. Ich habe dort ja auch keine Familie mehr. Meine Verwandten leben entweder hier oder in Amerika. Nur meine beste Freundin ist noch dort. Sie vermisse ich schon. Wir telefonieren beinahe jeden Tag.
Wenn ich überlege, wohin ich in den Urlaub fahre, na ja, dann vielleicht nicht gerade in die Ukraine. Es gibt schönere Flecken auf der Welt. Ich reise sehr gern. Aber ich träume oft von meiner Kindheit. Für meine Eltern war es sicher nicht immer so einfach. Aber ich hatte eine wirklich schöne und unbeschwerte Zeit. Der Abschied von der Ukraine fiel mir sehr schwer. Ich habe lange geweint.
Im Grunde bin ich wohl wie eine Katze: Ich binde mich sehr an eine Wohnung. Hier in Leipzig ist das vielleicht anders, weil ich nur Mieterin bin. Aber dort habe ich die ersten 18 Jahre meines Lebens in unserer eigenen Wohnung verbracht. Sie zu verlassen, war für mich das Schlimmste beim Abschied. Meine Familie ist mit mir gekommen, und meine Freunde kann ich wiedersehen, aber die Wände meines Zuhauses sind für immer verschwunden.
Aufgezeichnet von Carsten Dippel