Aufgewachsen bin ich in Roslyn, einer jüdischen Gegend auf Long Island in New York. Als junger Mensch habe ich gedacht, die ganze Welt sei jüdisch. An meiner Grundschule waren 90 Prozent der Schüler jüdisch, erst an der Highschool kamen dann auch Italiener und andere dazu. Da merkte man schon einen Unterschied.
Es war nicht unangenehm, aber es war anders. Schon an der Schule habe ich Deutsch gelernt, was damals sehr ungewöhnlich war. Für einen jüdischen Jungen sowieso. Es war mein Wunsch, und ich weiß bis heute eigentlich nicht genau, warum. Aber ich war vom ersten Moment an von der Vorstellung fasziniert, diese Sprache zu lernen, und konnte es kaum erwarten, die ganzen Bücher zu lesen, die meine Mutter im Schrank hatte.
Lehrerin Sie hatte vor 1933 selbst einige Jahre in Deutschland gelebt. Meine Mutter war nicht dagegen, dass ich Deutsch lerne, aber sie war damals kurz nach dem Krieg dagegen, dass man deutsche Produkte kauft. Allerdings gab es in der Nachbarschaft einige jüdische Emigranten aus Deutschland, und die waren dagegen, dass ich die Sprache lerne. Eine Frau hat meine Mutter deswegen im Supermarkt angesprochen. Meine Deutschlehrerin war eine Jüdin aus Berlin, die eigentlich Französisch unterrichtete. Nun also bot sie Deutsch an, drei oder vier Schüler bekundeten Interesse, und so fing es an.
Mit 18 Jahren habe ich einen Schüleraustausch gemacht, der drei Monate dauerte. Da war ich in Balingen auf der Schwäbischen Alb. Obwohl ich mich sehr mit der Nazizeit beschäftigt hatte, habe ich nie Angst vor Deutschland gehabt. Meine Mutter hatte sogar ein Exemplar von Mein Kampf. Ich habe versucht, das zu lesen, aber das ging gar nicht. Das ist ein schreckliches Buch, da habe ich lieber die anderen Bücher gelesen, wie Fräulein Else von Schnitzler oder Kleiner Mann, was nun? von Fallada.
Meine Großmutter hat immer gesagt, ich sei »eine alte Seele aus Deutschland«. Da kamen meine Vorfahren mütterlicherseits ja auch her. Die Familie meines Vaters kam aus Ungarn. Diese Sprache habe ich aber nie gesprochen. Es ist nur sehr interessant, da ich jetzt sehr oft in Ungarn bin und dort auftrete. Meist spiele ich aber mit ungarischen Roma-Musikern oder mit jüdischen Musikern zusammen und nur selten mit anderen ungarischen Musikern.
musik Zur Musik kam ich durch meine Eltern. Meine Mutter hat ein bisschen Akkordeon gespielt, und mein Vater war Amateurgeiger. Er hat sogar in einem Sinfonieorchester in Great Neck gespielt, einem kleinen Ort auf Long Island. Außerdem hat mich die Musik in der Synagoge sehr stark geprägt. Ich habe dort im Chor gesungen, und die Melodien habe ich noch immer im Kopf. Die sind in vielen Fällen anders als die, die hier in Deutschland gesungen werden. Unser Kantor hat übrigens zu meinen Eltern gesagt, aus mir könne ein guter Kantor werden. Bei der Barmizwa meines Bruders hat eine Band gespielt, und da habe ich die ganze Zeit neben dem Schlagzeuger gestanden.
Er hieß Mel Zelnik und war Drummer bei Benny Goodman, aber das wusste ich damals noch nicht. Er jobbte oft als sogenannter »Club-Date-Drummer«, die auf Barmizwa-Feiern oder Hochzeiten spielten. Jedenfalls war ich total fasziniert von ihm und wich nicht von seiner Seite. Nun wollte ich unbedingt Schlagzeug lernen, und mein Vater hat einen Musikerfreund gefragt, ob er einen guten Schlagzeuglehrer kennt. Er empfahl einen alten Kumpel, einen Broadway-Schlagzeuger namens Stanley Krell. Früher hat er wahrscheinlich Krellinski oder so ähnlich geheißen. Viele amerikanische Juden haben ja ihre Namen amerikanisiert.
xylofon Ich war elf Jahre alt, als ich bei Stanley Krell mit Schlagzeugunterricht anfing, und so begann die große Liebe zu diesem Instrument. Nach vier Jahren meinte Stanley, es sei nun höchste Zeit, dass ich zusätzlich ein Melodieinstrument lerne. Das gehöre für einen vielseitigen Musiker einfach dazu. Ich wollte das gar nicht. Aber er bestand darauf, dass wir mit Xylofon-Unterricht anfangen. Am Anfang tat ich mich mit diesem Instrument sehr schwer. Ich habe das mit den Dur- und Moll-Tonleitern nicht verstanden. Doch nach etwa einem Jahr machte es dann Klick, und plötzlich fand ich Xylofon und Marimba ganz toll. Das Vibrafon hatte ich noch nicht entdeckt.
Fortan spielte ich vor allem Marimba, und ich wollte unbedingt klassische Musik darauf spielen. Heute gibt es dafür ein klassisches Repertoire, viele spielen Bach, aber damals war ich wirklich einer der Ersten, der sich mit so etwas beschäftigt hat. Ich fing an, Renaissance-Stücke für Marimbafon zu bearbeiten. Fortan habe ich mich dann auf die sogenannten Stabinstrumente konzentriert.
SPIRITUALITÄT Ich glaube an eine spirituelle Energie und auch, dass Menschen mit der Fähigkeit zur Intuition beschenkt werden. Und diese Intuition stellt die Verbindung zu allem dar. Viele Menschen sind es leider nicht gewohnt, sich auf die Intuition zu verlassen. Man glaubt, es sei sicherer, sich auf das zu verlassen, was man weiß. Auf das Materielle, das nichts mit dem Spirituellen zu tun hat – wie die Wissenschaft. Man geht zum Beispiel davon aus, dass man sich erkältet, wenn man mit bestimmten Keimen in Berührung kommt. Das Spirituelle geht davon aus, dass ein ängstlicher und depressiver Mensch offen ist für negative Energie, die uns krank machen kann. Ich höre manchmal Stücke von mir, und da stelle ich mir dann die Frage, woher sind diese Harmonien gekommen und woher diese Melodien?
Als ich einmal mit Leonard Bernstein im Studio war, habe ich in einer Probenpause ein bisschen auf meinem Instrument improvisiert. Plötzlich stand Bernstein neben mir, hörte eine Weile zu und sagte dann: »Das hast du aber nicht auf der Juilliard Music School gelernt!?« Er hatte recht. Das ist eben diese Sache mit der Intuition. Es ist schon da und muss nur angezapft werden. Das ist genauso, wie wenn man in einen Raum geht, und da hängen irgendwelche Sachen, die man sucht. Du erkennst sie nicht sofort, weil du dich auf deine Augen verlässt.
Aber wenn man die Augen schließt, wie die alten Samurai, die dabei Mücken mit Stäbchen erwischt haben, merkt man, dass man die Augen gar nicht braucht, weil man ein inneres Auge hat: Dieses innere Auge sieht alles, aber man muss den Mut haben, sich darauf zu verlassen. Ich habe meine besten Stücke geschrieben, wenn ich mich voll und ganz auf meine Intuition verlassen habe, wenn man anfängt zu schreiben und nicht mehr aufhören kann: Der Fluss ist da, und es geschieht fast von allein.
DEUTSCHLAND Mitte der 80er-Jahre hat mich die Liebe zu einer deutschen Frau hierher geführt. Hinzu kommt, dass die Studioszene in New York in dieser Zeit von der Synthesizer-Krankheit befallen wurde. Es sind immer weniger Live-Musiker eingesetzt worden. Parallel hatte ich mich also in diese Frau aus Berlin verliebt, die ich in Wien kennengelernt hatte. Und das war sicher kein Zufall.
Ich kam nach Charlottenburg und hatte dort sofort so ein Gefühl, dass das ein jüdischer Stadtteil ist. Ich wusste nicht, dass vor der Schoa das aschkenasische Bürgertum in Charlottenburg gewohnt hatte. Aber als ich durch jene Nebenstraße vom Kurfürstendamm lief, in der ich damals wohnte, fühlte sich das jüdisch an. Obwohl es dafür äußerlich kaum konkrete Anzeichen gab. Ich habe zwei Mal orthodoxe Juden gesehen, und es gab einen Falafel-Laden, wo zu Pessach auch Mazzot verkauft wurden. Da bin ich oft hingegangen und habe Gefilte Fisch gekauft.
Berlin ist für mich die jüdischste Stadt in Deutschland. Hier hatte ich nie das Gefühl, in einer feindlichen Welt zu leben, in der ganz Schlimmes passiert ist. Ich weiß es natürlich, aber vom Gefühl her war das nie da. Hingegen hatte ich dieses negative Gefühl, wenn ich Berlin verlassen habe. In Bayern war mir immer mulmig, und am Schlimmsten war es in Nürnberg. Auch heute noch, wenn ich nach Nürnberg komme, ist dieses negative Gefühl plötzlich da. In Berlin aber habe ich mich von Anfang an zu Hause gefühlt – und das ist auch so geblieben.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg.